Kultur und Mode

Dresscodes der Gesellschaft: Porno-Uschi oder was?

Als die Autorin am helllichten Tag in Lackhosen durch die Kleinstadt läuft, ist ihr Ruf ruiniert. Auch ein Kleid mit High Heels im Zug sorgt für schiefe Blicke. 

Die Autorin saß wie ein Missverständnis im Abteil und ertrug genervt die taxierenden Blicke der anderen Fahrgäste.
Die Autorin saß wie ein Missverständnis im Abteil und ertrug genervt die taxierenden Blicke der anderen Fahrgäste.Roshanak Amini für Berliner Zeitung am Wochenende

Diesen Sommer spielte die Post-Punk-Band Idles beim Festival „Tempelhof Sounds“ in Berlin. Der Gitarrist Mark Bowen trat, wie gewöhnlich, in einem Kleid auf. Ein bärtiger Punk-Rocker in einem Rüschenkleid – niemand wunderte sich. Im gleichen Sommer fuhr ich mit dem Zug von Potsdam nach Berlin, um an einer Veranstaltung teilzunehmen, ebenfalls in einem Kleid. Schon auf dem Bahnsteig zeigte sich mein „Publikum“ hingegen äußerst verwirrt. Es war später Nachmittag und die meisten Fahrgäste fuhren von der Arbeit nach Hause. Ich saß zwischen ihnen und kam mir in meinem weißen Kleid mit meinen zur Wasserwelle gelegten Haaren, den goldenen Zwölfzentimeter-Absätzen und dem roten Lippenstift vor wie ein Clown auf einer Beerdigung. Ich passte nicht ins Bild, also saß ich wie ein Missverständnis im Abteil und ertrug genervt die taxierenden Blicke der anderen Fahrgäste. Ich war klassisch overdressed. Nicht für die Veranstaltung, auf die ich wollte, da ging ich als angemessen gekleidet durch, aber für die Bahnfahrt und die Uhrzeit allemal.

In den beiden beschriebenen Szenarien bin ich es, die in ihrem Aufzug Fragen aufwirft und als unpassend angezogen wahrgenommen wird, obwohl ein Mann in einem Kleid nach unseren gesellschaftlichen Normen viel ungewöhnlicher ist. Lediglich die Tatsache, dass wir im Falle von Mark Bowen eine Bühnenfigur sehen, deren nonkonformistisches, rebellisches Verhalten für das Musikgenre Punk typisch ist, erlaubt es, seinen Look als adäquat zu interpretieren. Aber viel mehr noch ist sein Kleid ein gesellschaftlicher Kommentar zum Thema Männlichkeit. Eine Botschaft, deren subversive Kraft so ziemlich alle im Publikum erreichte. Die britische Band ist bekannt für ihren Bruch mit althergebrachten Männlichkeitsbildern. Bowen kommuniziert das eindrucksvoll durch seine Klamotten.

Kleidung ist also eine Form der nonverbalen Kommunikation. Weil sie so allgegenwärtig ist, wird uns ihre Wirkung nicht immer bewusst. Außer jemand bricht die unausgesprochenen Regeln der Mode, dann erkennen wir plötzlich ihre Macht. Wir können den gesellschaftlich konstruierten Dresscodes folgen oder sie ablehnen. Entziehen können wir uns der Sprache der Mode nicht, denn solange wir uns kleiden, gilt für jeden das Axiom des Philosophen und Psychoanalytikers Paul Watzlawick: Man kann nicht nicht kommunizieren. Und immer gilt dabei: Wer sich ausdrückt, kann auch missverstanden werden.

Im Lack-Look in den Supermarkt? Das könnte zum Spießrutenlauf werden.
Im Lack-Look in den Supermarkt? Das könnte zum Spießrutenlauf werden.Roshanak Amini für Berliner Zeitung am Wochenende

Porno-Uschi oder Mutter?

Das hat vor allem Auswirkungen auf unser Sozialleben, denn unser Äußeres gibt Anlass für allerlei Interpretationen zu unserem Lebensstil, Charakter oder dem Grad an Vertrauenswürdigkeit. Zuschreibungen, die man nur schwer wieder loswird. Urbane Tattoo-Individualisten mit Micro-Pony mögen an dieser Stelle nicht verstehen, was eigentlich gemeint ist, aber wenn man, wie ich, aus einer Kleinstadt kommt und dort mal versucht hat, am helllichten Tag eine Lackhose zu tragen, der weiß, wie sich soziale Ächtung anfühlt. Das Credo „Dress for the job you want, not the job you have!“ schien die einzig mögliche Interpretation der Aufmachung zu sein, und mein hochglanzveredelter Arsch wurde just neben Micaela Schäfer auf der Erotikmesse Venus verortet. Den Ruf als Porno-Uschi hatte ich weg, da half auch die Kombination mit der bieder hochgeschlossenen Bluse nix.

Ein klassischer Irrtum, denn eine textile Wahl aus der Fetisch-Ecke ist nicht zwingend sexuell motiviert. Genauso wie man nicht automatisch vorhat zu rennen, nur weil man Laufschuhe trägt, und eine Mom-Jeans macht einen nicht gleich zur Mutter. Das dürfte klar sein. Aber textiles Verhalten ist eben nicht so leicht zu interpretieren, weil es von so vielen Komponenten abhängt. Einerseits gibt die Gesellschaft eine Richtung vor, was als angemessene Kleidung gilt. So wird durch die Parameter Kultur, Anlass, Klasse, Funktion, Gender, Alter und weitere Aspekte eine Norm konstruiert. Diese Anforderungen treffen auf die eigenen Beweggründe für die Kleiderwahl wie Stimmung, Persönlichkeit und Gefühlslage und genügen schlussendlich, individuell fein austariert, zwei rivalisierenden menschlichen Bestrebungen, die der deutsche Soziologe und Philosoph Georg Simmel schon 1905 identifizierte.

In seinem Essay „Philosophie der Mode“ beschrieb er einen Dualismus aus Nachahmung und Differenzierung in dem Spiel mit der Mode. Die Differenzierung diene dem Ausdruck der Persönlichkeit und der Distinktion. Mittels Nachahmung entsprächen wir dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Gemeinschaft. „Ich will euch ähnlich sein und zu euch gehören, aber ich will auch ich sein“, lautet die Parole, die sich modisch so deutlich in Subkulturen und Szenen wie denen der Punks, Hippies oder Surfer ablesen lässt.

Modisches Mimikry ist in vielen Situationen hilfreich, denn Menschen suchen nur zu gern nach ihresgleichen. Mit meinem persönlichen Hang zu exaltierter Kleidung habe ich oft erfahren, dass mir nicht nur Oberflächlichkeit und gefallsüchtige Effekthascherei unterstellt wird, sondern meine textilen Signale regelrechte Aggressionen und Ablehnung auslösen, insbesondere bei Frauen. Da kannst du noch so nett sein, wenn dein Outfit zu gewagt ist, verweist dich die weibliche Hackordnung auf die hinteren Plätze. Die Psychologen Jaimie Krems und Ashley Rankin der Oklahoma State University haben in einer Studie aus dem Jahr 2019 dieses Verhalten genauer untersucht. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Form von Intoleranz um die Benachteiligung einer sexuellen Rivalin handelt. „Sexismus ist kein männliches Privileg, auch Frauen können äußerst sexistisch sein – vor allem gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen“, erklärt Sandra Konrad in ihrem Buch „Das beherrschte Geschlecht“ und sieht den Grund dafür in der strukturell bedingten Verinnerlichung der patriarchalen Geringschätzung von Frauen. Durch die unbewusste Übernahme des männlichen Blicks machen Frauen anderen Frauen das Leben schwer.

Downdressing beim WG-Casting

Das sind schlechte Voraussetzungen, wenn man davon abhängig ist, dass Frauen einen mögen. In Bewerbungsgesprächen zum Beispiel oder wenn man ein WG-Zimmer sucht. Der erste Eindruck zählt. Mit einer diffusen Ahnung von der Sachlage entschloss ich mich daher Anfang der 2000er, bei einem WG-Casting auf Crop Top, Hüftjeans und Schminke zu verzichten. Ich brauchte für mein beginnendes Studium unbedingt und sehr schnell eine Bleibe. Die Wohngemeinschaft bestand nur aus Frauen, und ich versuchte mit Schlabberpulli und Baggyhose modisch möglichst deeskalierend zu bestehen. Es funktionierte. Mein stilistisches Trugbild hielt ich allerdings nicht lange durch und so gab es recht bald nach meinem Einzug hier und da ein bisschen Verwirrung, wenn ich aus meiner Zimmertür kam und aussah wie ein Spice Girl kurz vor einem Pressetermin.

Die Autorin in sexy Pose. Damit wird sie zum Feindbild vieler Frauen.
Die Autorin in sexy Pose. Damit wird sie zum Feindbild vieler Frauen.Katharina Lichte

Dazugehören ist wichtig, Individualität auch. Ein Spagat, der besonders für Frauen nirgendwo schwieriger ist als in der Arbeitswelt. Davon berichtet auch immer wieder die Unternehmerin Tijen Onaran, die sich für die Sichtbarkeit von Frauen in der Wirtschaft einsetzt. Onaran ist Expertin für Digital- und Netzwerkthemen, Autorin, Speakerin und Podcasterin. Sie informiert, investiert und gründet Initiativen. Und: Sie ist modisch gekleidet. Das habe sie sich lange nicht getraut, gesteht sie auf Instagram. Schon mit 20 ist sie politisch aktiv (kandidierte für die FDP bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg) und erhält just den goldenen Ratschlag, sich zum Zwecke ihrer Glaubwürdigkeit möglichst formal zu kleiden. In Unifarben und Businesskostüm möge sie sich einfügen in die Welt der Macht. Bitte nicht stören oder auffallen in einer von Männern bestimmten Domäne.

Auf der Arbeit gelten ganz besonders strenge Dresscodes. Kleid mit Hut wäre in den meisten Büros sicher keine Option.
Auf der Arbeit gelten ganz besonders strenge Dresscodes. Kleid mit Hut wäre in den meisten Büros sicher keine Option.Roshanak Amini für Berliner Zeitung am Wochenende

Mode ist weiblich und sexuell markiert

Das Thema Mode ist heute nämlich nahezu synonym mit Weiblichkeit, wird als Schnickschnack diffamiert, als dysfunktional und unpassend für die Arbeit. Das verdanken wir den Entwicklungen der beiden großen Revolutionen des langen 19. Jahrhunderts. Als die alte Ordnung durch die französische Revolution gekippt wurde, markierte Kleidung nun nicht mehr den Stand, sondern ersetzte die Opposition adelig/nicht adelig durch männlich/weiblich. In der Kleiderordnung der Moderne, so argumentiert die Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin Barbara Vinken, wurde der männliche Körper dem öffentlich wirkenden Kollektiv zugeordnet, das sich mittels Performanz, Macht und Geistigkeit ausdrückt. Das Individuelle stand hinter der Funktion zurück. Der Anzug war nun die neue Uniform der Männlichkeit. Die Frauen hingegen wurden mit dem Argument der Natürlichkeit ins Häusliche verdrängt, ihnen stand die Zurschaustellung des Weiblichen zu. Ihr Körper wurde mit der Mode nach und nach erotisiert, geschmückt, inszeniert. Die industrielle Revolution tat ihr Übriges und trieb mit der Erfindung der Dampfmaschine, dem vermehrten Einsatz von Webstühlen und der Etablierung von Konfektionsgrößen die immer rascher wechselnde Mode voran.

„Frauen erscheinen, Männer sind“, fasst Vinken das in ihrem Buch „Angezogen“ zusammen. So wurde Mode weiblich und sexuell markiert, während Männer für sich in Anspruch nehmen konnten, sie hätten Wichtigeres zu tun. Der gutgemeinte vestimentäre Ratschlag an die Entrepreneurin Onaran sagt demnach „Bitte werden Sie männlicher!“ und bedeutet nichts anderes, als dass sie Gefahr läuft, mit ihrer Weiblichkeit, die sie mittels Mode ausdrückt, die Ernsthaftigkeit ihrer Unternehmungen zu sabotieren. Weil das Weibische qua ihrer zugeschriebenen oberflächlichen Eitelkeit als Ausweis ihrer (geistigen) Unterlegenheit gelesen wird.

Da zieht es einem als Feministin doch glatt die hochhackigen Schuhe aus. Da hilft auch kein Unisex, der ja immer nur die geschlechtliche Unmarkiertheit männlicher Kleidung überträgt, die Mode ergo vermännlicht. Tijen Onaran tut also gut daran, sich nicht den Spielregeln der Männer zu unterwerfen. Sie macht einfach ihre eigenen und steht für eine Selbstbestimmtheit ein, von der sie selbst erfahren hat, dass der Ausdruck ihrer Persönlichkeit ruhig Einzug halten kann in ihren beruflichen Alltag.

Denn Mode ist auch identitätsstiftend und wirkt nicht nur auf unsere Umwelt, sie hat auch großen Einfluss auf uns selbst. Die französische Luxusmarke Balenciaga kreiert aus diesem modischen Verwirrspiel einen ganz eigenen Stil und ist damit das Label der Stunde. Chefdesigner Demna arbeitet mit Ironie, deutet um, macht Alltagsgegenstände zu High Fashion, spielt mit Nostalgie und hält sich damit an keinerlei Regeln. Die Verwirrung in Reinform. Das trifft wie kein anderes Label derzeit den Nerv der Zeit. Auf der diesjährigen Paris Fashion Week inszenierte er eine fulminante Fashion-Schlammschlacht und ließ seine Luxusmode von den Models durch echten Modder zerren. Ein eindrucksvoller Kommentar, den er in einem Brief weiter ausführt: Er habe sich entschlossen, seine Kollektionen und Designs nicht länger zu erklären. Stattdessen deklamiert er eine Geisteshaltung, die Mode als visuelle Kunst betrachtet. Sie brauche eine individuelle Betrachtung und entweder mag man sie oder nicht. Jeder soll sein, wie er ist. Das Set-Design wäre eine Metapher für das Graben nach Wahrheit und Erdung. Damit gibt Demna der Mode letztlich ihr Geheimnis zurück, dem wir nur dadurch auf den Grund gehen können, indem wir uns vorurteilsfrei auf Menschen einlassen, sie kennenlernen und aufhören, uns blind vom Schubladendenken leiten zu lassen. Seien Sie also kein „Fashion Victim“ bei dem Versuch, hinter der Mode den Menschen zu lesen.