Letzte Woche hat meine Freundin geheiratet und das Ereignis weder auf Instagram gepostet noch sonstwie Aufhebens darum gemacht. Kein überteuertes Kleid, kein Kuchenkunstwerk, keine aufwendige Haarspray-Frisur. Nichts. Nur der weißgoldene Ring und ein schelmisches Grinsen verraten, dass sie mir gerade die Wahrheit zuflüstert und mein Gesicht zu Recht an das Emoji mit den großen Augen erinnert. Mein Gehirn geht alle möglichen Reaktionen durch und produziert letztlich leider nur ein verwirrtes und viel zu lautes „Was???“ mitten in die Grillparty hinein. Alle gucken. Mir rollt die Wurst vom Teller. Die Frau, die geradezu pflichtbewusst jeden Kaffee mit ihren Followern teilt, lässt die Möglichkeit der absoluten Inszenierung einfach so verpuffen und heiratet heimlich? Das passt gar nicht zu ihr.
Als mein Gehirn doch noch das passende „Glückwunsch!“ aus dem Sprachzentrum entlässt, frage ich gleich hinterher: „Warum heimlich?“ „Ach,“ sagt sie, „wir wollten diesen Tag einfach für uns, ohne das ganze unzeitgemäße Hochzeitstheater aufführen zu müssen.“ Das verstehe ich gut. Meine Freundin ist erklärte Feministin. Ausnahmslos alle Brauchtümer, die in unserem Teil der Welt zum Thema Hochzeit üblich sind, kommen aus schwierigen Verhältnissen.
Das geht schon beim Antrag los. Erst Kniefall, dann heulen. So sieht der Beginn einer klassischen Ehe aus. Die letzten Tage des Patriarchats sind zwar schon ausgerufen, aber wenn es an die Romantik geht, sind weiterhin seine Initiative und ihre gerührte Zustimmung gefragt. Viele Grüße aus einer Zeit, in der die heiratsfähige Tochter Eigentum des Vaters war und ihre Vermählung dem Statuserhalt der Familie diente. Der Kniefall eines Freiers mit passendem Stand bedeutete nicht weniger als den letzten Sargnagel für ihre ohnehin schon kaum vorhandene Selbstbestimmung.
Mittelalter-Ebay mit der Ware Frau
Am Hochzeitstag selbst wird es leider auch nicht besser. Traditionell geleitet der Vater die Braut zum Altar, mit der Übergabe an den Bräutigam wechselt sie dann den Besitzer. Umtausch ausgeschlossen. Jedes Mal, wenn heute irgendwo ein Papi seine Tochter einhakt und mit ihr stolz den geschmückten Gang entlangschreitet, sehen wir eine Reminiszenz an Mittelalter-Ebay mit der Ware Frau. Und es wird meist noch schlimmer, wenn der Deal erstmal mit dem tränenreichen „Ja, ich will!“ besiegelt ist.
Die neckische Brautentführung während der Feierlichkeiten etwa soll ihren Ursprung im Mittelalter haben. Der Mythos besagt, dass dem Feudalherren das Vorrecht zukam, seine weiblichen Untergebenen in deren Hochzeitsnacht zu entjungfern beziehungsweise zu vergewaltigen. Auch wenn dieser Hintergrund nicht klar bewiesen ist, bleibt doch ein gewisses Geschmäckle, das diesem Brauch anhaftet. Denn wenn eine Horde Männer auf die Braut zustürzt und sie gegen ihren Willen mitnimmt, ist das in meinen Augen so romantisch wie Durchfall.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass der „lustige“ Brautraub für Frauen in anderen Teilen der Welt noch immer bittere Realität ist. In Kirgisistan haben nach Angaben der Vereinten Nationen fast 15 Prozent der Frauen, die jünger als 24 Jahre alt sind, nach ihrer Entführung unter Zwang geheiratet. Obwohl dies mittlerweile unter Strafe steht, wird ein solches Verbrechen von Traditionalisten immer noch verklärt und verteidigt. Im vergangenen Jahr kam eine kirgisische Frau bei dem Versuch zu Tode, sich gegen diesen Brauch und ihre Entführer zu wehren.
Brautschleier, Blumenkinder, Brautstraußwurf – alles Bräuche, die wir der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau zu verdanken haben. Bräuche, die frauenfeindlich sind. Bräuche, die daran erinnern, dass Frauen für den Erhalt der Blutlinie verantwortlich waren und gebären mussten, am besten oft, am besten Jungs. Bräuche, die davon zeugen, dass nur das Leben als aufopfernde Ehefrau ein ehrbares war. Ihre zeitgenössischen Wiederholungen huldigen weiterhin einem Frauenbild, gegen das wir uns heute eigentlich mit aller Macht auflehnen.
Traditionen vermitteln Stabilität und Zugehörigkeitsgefühl
Tradition bedeutet nicht nur die Weitergabe von Handlungsmustern, sondern auch von Überzeugungen und Glaubensvorstellungen. Warum führen wir dann wieder und wieder dieses Unterjochungsschauspiel bei Hochzeiten auf? Die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann beschreiben Tradition als kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft. Konkret handelt es sich dabei um „[…] die Tradition in uns, die über Generationen, in Jahrhunderte, ja teilweise Jahrtausende langer Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.“ Übersetzt: Traditionen sind hartnäckig, weil sie so tief in unserer Kultur verankert sind. Sie bilden die Grundlage unseres sozialen Lebens und Handelns, denn sie vermitteln sowohl Stabilität als auch Zugehörigkeitsgefühl.
Wie lebendig und fordernd dieses kulturelle Gedächtnis in uns arbeitet, sahen wir zuletzt bei der Hochzeit von Finanzminister Christian Lindner und der Journalistin Franca Lehfeld. Das eigentlich konfessionslose Paar ließ es sich dennoch nicht nehmen, in der evangelischen Kirche Sankt Severin auf Sylt zu heiraten. Die kirchliche Trauung ist eigentlich nur möglich, wenn wenigstens einer der beiden Brautleute Mitglied der Kirche ist. Die Vorstellung, dass eine Hochzeit nur im Gotteshaus eine Traumhochzeit ist, war für die Eheleute Lindner/Lehfeld offenbar so stark, dass die Vernunft zugunsten der kirchlichen Szenerie das Nachsehen hatte. „Wofür die inhaltlich steht, ist dabei offenbar egal“, kommentierte die Theologin Margot Käßmann die Hochzeit in Religionskulisse. Hoffen wir, dass beide wenigstens in der Ehe etwas mehr auf Inhalte setzen, von ihren Berufen ganz zu schweigen.
So stark die inneren Bilder auch sind, sie bleiben formbar. Eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Althergebrachten war für meine Freundin und ihren Mann ein Grund, die Hochzeit anders zu gestalten. Beide hatten keine Lust auf die Patriarchats-Folklore. „So leben wir nicht, also wollten wir auch nicht so heiraten“, erklärt sie mir.




