Tulpen und Tomaten

Ein Apfel darf auch Würmer und Löcher haben

Unsere Kolumnistin hat’s gut: Sie holt die Früchte direkt vom eigenen Bäumchen.

Roter Schatz: Apfelernte ist ein Thema dieser Tage
Roter Schatz: Apfelernte ist ein Thema dieser TageImago

In meinem Garten steht ein Apfelbaum. Kein Mensch weiß genau, wie alt er ist. Aber dem dicken, knorrigen Stamm nach zu urteilen, sehr alt. Was für eine Sorte Äpfel er trägt, weiß auch niemand. Längst wollte ich die mal von einem Experten bestimmen lassen, aber wie’s so ist mit Dingen, die man „immer mal machen will“ – man macht sie nicht. Der Gedanke daran kommt und geht, und über die Jahre hat man sich so an ihn gewöhnt, dass es fast schade wäre, ihn als wiederkehrenden Begleiter nicht mehr im Kopf zu haben.

Jetzt, Anfang September, trägt mein alter Baum jedenfalls haufenweise Äpfel. Wie Weintrauben hängen die kleinen, grün-gelben Früchte zwischen den welligen Blättern, und alle paar Minuten landet mit einem dumpfen Plopp ein herunterfallender Apfel auf dem Rasen. Das ist weder gut für den Rasen noch für den Apfel, und sobald ich diesen Text hier fertig geschrieben habe, werde ich nach draußen gehen und ernten. Ich habe mir neulich dafür eigens einen Obstpflücker mit Teleskopstiel angeschafft. Sie wissen schon: so eine lange Stange mit einem Sack unten dran. Wobei man diesen Satz jetzt auch anders interpretieren könnte … hüstel.

Fakt jedenfalls ist: Apfelernte ist ein Thema dieser Tage – vor allem nämlich, weil man ja gar nicht weiß, wohin mit all den Äpfeln! Das Gemüsefach meines Kühlschranks quillt über, drei Mal in der Woche schmeiße ich die Saftpresse an, und meinem Sohn lege ich seit Ferienende ausschließlich Apfelscheiben in die Stullenbox. „Kann ich auch mal wieder ein Brot haben?“, fragte mich das Kind erst gestern, und ich fühlte mich ein bisschen schuldig. Schließlich kann der Knabe nix dafür, dass unser Baum eine derart satte Ernte einbringt.

Für geschenkte Äpfel ist der gemeine Berliner wohl zu skeptisch

Im vergangenen Jahr habe ich mal den Versuch unternommen, die Äpfel zu verschenken. Ich drapierte einen randvoll gefüllten Korb auf einem unserer Gartenstühle und stellte ihn vor die Haustür. An die Lehne hängte ich ein Schild: „Zum Mitnehmen! Gratis!“ Aber der Berliner ist skeptisch. Ich beobachtete die Sache vom Wohnzimmerfenster aus. Ein kleines Mädchen kam vorbei und langte in den Korb. Die Mutter zerrte es erschrocken weiter. Ein älteres Ehepaar blieb stehen, argumentierte ein bisschen und ließ die Äpfel liegen. Schlussendlich kam ein Radfahrer, der nahm die Äpfel mit. Alle. Und den Korb. Das fand ich ziemlich doof. An dem Stuhl hing nun noch das Schild: „Zum Mitnehmen! Gratis!“ Eilig spurtete ich nach draußen.

Äpfel sind auch für mich als Reporterin übrigens immer wieder spannend. Darum war ich vor ein paar Tagen in Staufen. Das ist eine entzückende Kleinstadt im Breisgau, rund 20 Kilometer südlich von Freiburg. Dort lebt und arbeitet Martin Geng, ein Apfelbauer, der auf seiner Plantage über 400 verschiedene Sorten kultiviert. „Inschgsamt“, erzählte er mir stolz, während wir durch die langen Reihen seiner Bäume spazierten, „hän mir rund 5000 Epfelbaim ’uf de Felder.“ Keiner der Bäume sei gespritzt, lernte ich. Weder mit herkömmlichen synthetischen Pestiziden, noch mit biologischen Spritzmitteln.

Gutes immer griffbereit: Wer selbst anbaut, braucht sich über Pestizide keine Gedanken machen.
Gutes immer griffbereit: Wer selbst anbaut, braucht sich über Pestizide keine Gedanken machen.Imago

Einzig eine Ohrenkneiferwohnung baumelt um den Hals eines jeden Baumes. Dazu füllt der Bauer einen Tontopf mit Stroh und hängt ihn verkehrtherum an den Stamm. Dieser Tontopf wird dann praktischerweise auch gleich als Namensschild genutzt. „Französische-Renette“, „Freiherr von Berlepsch“ oder auch „Krügers Dickstiel“ heißen die Apfelbäume, die längst aus unserem kollektiven Obstgedächtnis verschwunden sind. Handgeschrieben, mit weißer Kreide, leuchteten mir die Namen entgegen. Fast so, als wollten sie trotzig sagen: „Schau hin! Wir leben noch!“

Schon vor rund 100 Jahren hat sich die Spritzmittelindustrie entwickelt

Die Geschichte des Deutschen Obstanbaus ist kompliziert. Sie hat mit der Entwicklung der Spritzmittelindustrie vor rund 100 Jahren zu tun, mit dem Zweiten Weltkrieg und mit der Gier nach immer größeren Erträgen. Das alles aufzuschreiben, würde den Rahmen dieser kleinen Kolumne sprengen, aber fest steht: In keinem landwirtschaftlichen Bereich kommen so viele Spritzmittel zum Einsatz wie im Obstanbau. Wenn Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, einen Apfel aus dem konventionellen Anbau im Supermarkt kaufen, dann kommt der höchstwahrscheinlich aus Polen, China oder Neuseeland und ist im Laufe der Saison diverse Male mit Pflanzenschutzmitteln behandelt worden.

Der Behandlungsindex Pflanzenschutz, der sogenannte BI, lag im Jahr 2020 im Apfelanbau bei 28,2. Das heißt, dass im Durchschnitt 28 Pflanzenschutzanwendungen an den Äpfeln durchgeführt wurden. 28-mal Fungizide, Herbizide oder Insektizide! Das muss man sich mal vorstellen! Und da wundern wir uns, dass die Insekten sterben? Je feuchter eine Saison ist, desto anfälliger sind die Bäume und desto mehr werden die Bauern spritzen. Das gilt übrigens auch für den biologischen Anbau.

Am besten wäre es natürlich, einfach gar nicht mehr zu spritzen

Hier werden die Äpfel meist mit Schwefel oder Kupfer besprüht. Für das Grundwasser und die Insekten sind, nach allem, was ich darüber gelesen habe, Kupfer und Schwefel weitestgehend unbedenklich. „Als problematisch wird jedoch der Austrag von Kupfer in Oberflächengewässer angesehen, da vor allem Fische sehr empfindlich auf das Metall reagieren“, schreibt allerdings das Informationsportal Ökolandbau auf seiner Webseite.

Am besten wäre es doch, einfach gar nicht mehr zu spritzen, oder? So wie Bauer Geng in seinem „Obstparadies“. „Mir verliere scho ä gwisse Andeil an d’Schädlinge, des isch klaar“, erklärte er mir in breitem Alemannisch. „Aber inschgsamt sin di alde Sorde hert im Neh.“ Geng arbeitet so wie die Bauern vor 100 Jahren. Geht einer seiner Bäume ein, pflanzt er eine neue, eine andere Sorte. Die Vielfalt der Bäume ist eine Schutzmaßnahme, das ökologische Gleichgewicht eine andere. Auf den Feldern darf das Wiesengras kniehoch zwischen den Obstbäumen wachsen, alle paar hundert Meter ist Totholz für Insekten aufgetürmt, und auf fast jedem seiner Grundstücke hat der Bauer einen Teich angelegt.

Das Ergebnis dieser Maßnahmen kann sich sehen und hören lassen. Käfer, Wildbienen und Schmetterlinge flatterten lautstark um uns herum, ein Specht schlug seinen Schnabel geräuschvoll in einen der Bäume, und im Teich saßen divenhaft ein paar Kröten und schwatzten. Der Marktanteil von ungespritztem Obst liege bei etwa 0,5 Prozent, erzählte mir der Bauer. Gleichzeitig aber würden laut Umfragen mehr als 85 Prozent der Bevölkerung gerne ungespritztes Obst essen.

Zur Lösung dieses Problems schlage ich daher jetzt mal Folgendes vor: Wenn Sie unbehandelte Äpfel essen möchten, dann können Sie natürlich jederzeit ihren nächsten Urlaub im Breisgau verbringen. Sollten Sie aber bis dahin mal an einem Korb voller Äpfel vorbeikommen, an dem ein Zettel hängt, auf dem „Zum Mitnehmen! Gratis!“ steht – greifen Sie einfach beherzt zu. Aber lassen Sie den Korb stehen. Bitte.