Tulpen und Tomaten

Urban Gardening statt Supermarkt: Sollten alle Berliner selbst Gemüse anbauen?

Unsere Kolumnistin kümmert sich liebevoll um Zwiebeln und Zucchini. Würden das alle tun, wäre die Welt ein besserer Ort, sagt sie. Ein Plädoyer fürs Gemüsebeet.

Das „Himmelbeet“ in Wedding: Auch Großstädterinnen können sich durchaus selbst versorgen.
Das „Himmelbeet“ in Wedding: Auch Großstädterinnen können sich durchaus selbst versorgen.Imago

In meinem Gemüsebeet ist die Hölle los. Aktuell ernte ich Gurken, Kohlrabi, Salat, rote Bete, Zwiebeln und Zucchini. Ohne Gemüse ist eine Saison nutzlos. Tut mir leid, aber so sehe ich das. Blumen, Stauden, Rosen und Rasen, das ist alles schön und gut. Aber erst zwischen Forellenschluss, Bohnen und rumänischen Tomaten findet meine Gartenleidenschaft ihre wahrhafte Erfüllung.

Wenn ich säe, ernte ich. Und ich ernte nicht nur Obst und Gemüse, nein, vor allem ernte ich ein fantastisches Glücksgefühl. Was bitte kann schöner sein als ein Korb voller gärtnerischer Errungenschaften, die in der Küche auf Weiterverarbeitung warten? Nix. Einfach nix. Nicht mal Sex ist besser. Noch nicht mal ansatzweise, wenn ich‘s recht bedenke.

Leider bin ich innerhalb meiner Familie ziemlich allein mit meiner Begeisterung für die Selbstversorgung. „Die schmecken gar nicht wie Chips“, moserte neulich mein Sohn, als ich ihm frittierte Zucchinischeiben als Nachmittagssnack schmackhaft zu machen versuchte. „Boah, das stinkt widerlich“, meckerte die Tochter, als ich jüngst panierte Kohlrabischnitzel in der Pfanne brutzelte. Und selbst der andere Erwachsene hier im Haus, also der Mensch, von dem ich eigentlich eine gewisse Zuneigung saisonalen Lebensmitteln gegenüber erwarten würde, ließ vor ein paar Tagen kein gutes Haar an meiner sommerlichen Gurkensuppe: „Sorry, kalte Eintöpfe sind nicht so mein Ding“, sprach er und schob den Teller von sich.

Na geht doch: Wer solche prächtigen Gurken selbst anbaut, spart sich den ein oder anderen Gang in den Laden.
Na geht doch: Wer solche prächtigen Gurken selbst anbaut, spart sich den ein oder anderen Gang in den Laden.dpa

Ganz ehrlich? Diese mäkelige Mischpoke geht mir in mehrfacher Hinsicht auf die Nerven. Erstens: Offenbar schmeckt meiner Familie nicht, was ich koche. Das ist natürlich nichts Neues, schmerzt aber dennoch. Zweitens: Meinen Liebsten ist es erschreckend schnurz, wie viel Liebe, Zuwendung und Mühe ich in all das gesteckt habe, was hier aktuell auf den Tisch kommt. Jede Knolle, jede Beere und jede reife Frucht ist schließlich monatelang von Muttern gepäppelt, getopft und mit Hingabe gepflegt worden. Ist es zu viel verlangt, das mal ein bisschen zu würdigen?

Tomaten gießen – bitte nur mit handwarmem Wasser

Allein die Tomaten! Im Februar habe ich gesät, die Keimlinge im März liebevoll pikiert und im April die Babys jeden Morgen raus und am Abend wieder rein getragen. Mitte Mai dann habe ich die strammsten Pflänzchen ins Beet gesetzt, ihnen an einem Stöckchen Halt gegeben und sie bis zum heutigen Tag ausschließlich handwarm gegossen. Stets das gleiche Ritual: Früh, noch vor dem Zähneputzen, gehe ich in den Garten, fülle die Kannen und lasse die Sonne das Wasser erwärmen. Erst am Abend, nach dem Zähneputzen, bekommen meine durstigen Lieblinge, was ihnen zusteht.

Das Urban-Gardening-Projekt „Annalinde“ in Leipzig: Auch in der sächsischen Stadt wird fleißig gegärtnert.
Das Urban-Gardening-Projekt „Annalinde“ in Leipzig: Auch in der sächsischen Stadt wird fleißig gegärtnert.dpa

„Ich glaube“, sagte meine Tochter gestern, als sie mir hohläugig beim Gießen zusah, „du hast deine Tomaten lieber als uns Kinder.“ Das ist natürlich Unsinn, aber ich gebe zu: Im Gegensatz zu meiner Familie sind Tomaten ausgesprochen dankbare Geschöpfe. Jetzt, Ende Juli, ranken die Pflanzen mannshoch in den Himmel, und unter ihren sattgrünen Blättern machen die ersten blassroten Früchte darauf aufmerksam, dass der Zeitpunkt der Ernte nur noch eine Frage weniger Tage ist. Gemüseaufzucht, jede Freizeitgärtnerin und jeder Freizeitgärtner weiß das natürlich, ist immer auch Vorfreude. Und die ist ja bekanntlich die … Sie wissen schon.

Lecker essen und die Welt retten – das geht mit Urban Gardening

Drittens – und das ist jetzt tatsächlich ein bisschen tragisch: Mann und Kinder haben augenscheinlich kein allzu ausgeprägtes Gefühl dafür, dass saisonale Speisezubereitung nicht nur eine Menge Geld spart, sondern auch zwingend nötig ist, wenn wir diesen Planeten noch retten wollen. Würden wir uns alle regionaler ernähren, käme weniger Plastik für Verpackung zum Einsatz, für Transporte würde weniger Treibstoff in die Luft gepustet, und deutlich weniger Spritzmittel würde unser Grundwasser belasten. Das ist natürlich nichts Neues, darf aber an dieser Stelle trotzdem noch mal erwähnt werden. Ich betrete im Sommer einen Supermarkt ausgesprochen selten. Was, bitte schön, sollte ich da einkaufen?

Wachsen und gedeihen auch nicht von alleine: Die Arbeit mit Tomaten sollte besser gewürdigt werden.
Wachsen und gedeihen auch nicht von alleine: Die Arbeit mit Tomaten sollte besser gewürdigt werden.Imago

Nachhaltige Städte und Gemeinschaften gehören übrigens seit 2016 zu den „Sustainable Development Goals“ der UN – also zu den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2030 rund 60 Prozent aller Menschen weltweit in Städten leben, bereits jetzt sind es 4,5 Milliarden. All diese Leute müssen irgendwie versorgt werden. Expertinnen und Experten der UN haben versucht auszurechnen, ob es theoretisch möglich wäre, dass sich Großstädte wie Hamburg, Berlin oder München ausschließlich regional ernähren. Also dass Obst und Gemüse nur vom Bauern um die Ecke kommen und so weiter. Das Ergebnis: Wenn die Politik und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger Hand in Hand gingen, könnte das klappen.

Freiflächen müssten in Nutzgärten verwandelt werden, Hochhausdächer würden zu Gemüsebeeten umfunktioniert, und in solarbetriebenen Gewächshäusern wüchsen Bananen und Mangos. Ich bin total dafür. Lasst uns lieber heute als morgen mit der großflächigen Hochbeetisierung unserer Städte beginnen! Gummistiefel an, Spaten geschnappt und los geht‘s. Neben der offensichtlichen Notwendigkeit einer derartigen Umgestaltung unserer Lebensräume sehe ich als leidgeplagte Gartenmutter noch einen weiteren Vorteil: Wenn Gärtnern endlich „hipp“ würde, weil die halbe Stadt ein Gemüsebeet bestellt, müsste ich hier zu Hause deutlich weniger debattieren. Was auf den Tisch käme, würde gegessen. Basta!

Und auch für die Stimmung in dieser ewig miesepetrigen Hauptstadt sehe ich großes Potential. Stellen wir uns das doch mal vor: Im August holt „janz Berlin“ die Ernte ein und eine Welle Glückshormone schwappt von Spandau bis nach Köpenick. Gegen einen derart kollektiven Freudentaumel wäre selbst der Christopher Street Day nur eine müde Fete. Denn was war noch mal schöner als ein Korb voll gärtnerischer Errungenschaften, die auf Weiterverarbeitung warten? Richtig: Nix. Einfach nix.