Egal, was der arme DFB auch angepackt hatte – es war fast alles schiefgegangen. Selbst die Einlaufkinder waren am Sonnabend in Wolfsburg vorm 1:4 gegen Japan noch von den Rasensprengern attackiert worden, als sie das große DFB-Emblem am Mittelkreis ausrollen wollten. Der Fanclub Nationalmannschaft hatte sich auf einem viel zu großen Spruchband wieder mal das denkbar dämlichste Motto ausgedacht – „Jetzt erst Recht“ –, und als Hansi Flick am Sonntagmorgen dann schon so gut wie gefeuert war, musste er noch das Showtraining leiten. Er sah dabei aus, als fühlte er sich vorgeführt. Selbst schuld, die Terminierung eines öffentlichen Trainings in derben Krisenzeiten zwölf Stunden nach Abpfiff war maximal unglücklich, aber vom Verband und seinem Ex-Bundestrainer genauso gewollt gewesen. Als Flick dann beurlaubt wurde, geriet der DFB mit der Veröffentlichung dieser Antiklimax noch mitten rein in den WM-Titel der Basketballer und musste sich dafür, reichlich populistisch, den geballten Volkszorn anhören. So ist das, wenn irgendwann dann niemand mehr Respekt vor einem hat.
Dortmunder Publikum feiert jeden Doppelpass der Nationalmannschaft
Zwei Tage später läuft schon in der ersten Halbzeit des 2:1-Siegs eines verzwergten Fußballlandes gegen den Giganten Frankreich die Welle durch die Dortmunder Arena, die Menschen feiern jeden Doppelpass wie ein Weltwunder und obendrein Rudi Völler wie einen Welttrainer, obwohl der gar keine Lizenz dafür hat, und oben auf der Tribüne sitzt Max Geis, der Kommunikationschef der Euro 2024, und sieht erleichtert aus: Kann doch noch was werden mit ein bisschen Vorfreude auf den nächsten Sommer.
„Rudi hat uns super eingestellt“, sagte der linke Verteidiger Benjamin Henrichs hinterher, als die Duschen aus waren. Sein rechter Counterpart Jonathan Tah fügte an, Völler habe ihnen mitgeteilt, dass sie alle Mann „füreinander da sein“ sollten. Dass das davor nicht der Fall gewesen war, hatte Kapitän Ilkay Gündogan in einem bemerkenswert tiefen Einblick ins Innere einer offenbar zerrütteten Mannschaft schon am Tag vor dem „emotionalen Befreiungsschlag“ (Thomas Müller) bemerkt. Im Nationalteam mangele es, anders, als Gündogan das bei Manchester City erlebt hatte, am gegenseitigen Vertrauen: „Ich habe dort auch viele Fehler gemacht, aber ich konnte mich darauf verlassen, dass meine Mitspieler die wieder ausgebügelt haben.“ Diese Selbstverständlichkeit im Mannschaftssport war dem DFB-Team abhandengekommen. Rudi Völler hat sie wieder geweckt.
Und er war klug genug, sich dabei nicht auf sich selbst zu verlassen. Er hat sich Hannes Wolf, einen von der Pike auf ausgebildeten Fußballlehrer, und Sandro Wagner, ein angehendes Naturtalent im Trainerjob, dazugeholt. Und weil Deutschland zwei jeweils überragend herausgespielte Tore durch Thomas Müller und Leroy Sané erzielte und auch der spätere Strafstoßgegentreffer durch Antoine Griezmann nicht wehtun konnte, sah man die drei meist gut gelaunt durch die Coachingzone huschen. Das sah nach einer Arbeitsteilung aus, als sei das Trio schon lange beisammen. Dabei hat Völler den Ex-Mittelstürmer Wagner gerade erst besser kennengelernt.
In der kurzen Vorbereitungszeit legten Völler, Wolf und Wagner besonderen Wert darauf, dass die schnellen Franzosen nicht nach Vorbild der flinken Japaner andauernd alleine aufs deutsche Tor zulaufen. Völler und Wolf, vormals vom DFB entliehener Kurzzeitretter bei Völlers Ex-Klub Bayer Leverkusen, erinnerten sich gemeinsam daran, dass Jonathan Tah nicht nur ein ganz guter Innenverteidiger ist, sondern auch passabel an der Seite agieren kann. Das Experiment mit Tah als rechter Verteidiger war also in Wahrheit gar kein wirkliches Experiment. Wie dem auch sei: Es funktionierte prächtig. Tah, 27, zuvor schon mehrfach aussortiert, machte im 17. Länderspiel sein mit Abstand bestes. „Das hat mir sehr gefallen“, lobte der Teamchef.
Völler selbst will dem Druck, er könnte doch mit Wolf und Wagner am besten einfach weitermachen, trotzen, wiewohl nach Lothar Matthäus („Rudi darf die Euphorie nicht kaputtmachen und muss bleiben“) nun auch Pierre Littbarski klarstellte: „Alle werden nun sagen: ,Ach Rudi, mach’ doch weiter!‘ Das hat er sich jetzt selbst zuzuschreiben.“ So ist das, wenn man gewinnt und obendrein beliebt ist.
Auch Pascal Groß holte sich en passant noch ein fettes Sternchen von Völler ab. Der 32-Jährige war früh für den an der Hüfte verletzten Gündogan eingewechselt worden und steigerte sich nach anfänglich unübersehbarer Nervosität enorm. Völler vergaß nicht, Hansi Flick für die Nominierung des Mittelfeldspielers ausdrücklich zu danken und diesem das auch persönlich am Telefon mitzuteilen.
Nun muss er sich, bei aller kurzzeitiger Hochstimmung, aber durch die Tiefen der Ebene kämpfen und für einen Verband, der gerade jeden Taler dreimal umdrehen muss, kostengünstig einen kundigen Übungsleiter finden. „Der Idealfall wäre es, wenn wir zu den nächsten Länderspielen einen neuen Bundestrainer hätten.“ Das klingt jetzt nicht nach einer Selbstverständlichkeit, dass im Oktober zur USA-Reise jemand da ist, der das DFB-Team fortan anleitet. Lieblingskandidat Jürgen Klopp hat inzwischen über seinen Berater wissen lassen, dass sein Name von der Liste gestrichen werden muss – den intensiven Bemühungen vom alten Dortmunder Weggefährten, Ligaboss Hans-Joachim Watzke, zum Trotz.
Für Rudi Völler muss „ein Deutsch sprechender Nationaltrainer“ her
Der FC Bayern ließ derweil schon mal via Uli Hoeneß wissen, er würde den noch auf der Payroll stehenden Julian Nagelsmann kostenfrei an den DFB weiterreichen und somit auf eine Ablöse für jenen Mann verzichten, für den sie vor etwas mehr als zwei Jahren mehr als 20 Millionen Euro an RB Leipzig überwiesen haben. Völler will jetzt mal durchschnaufen, sich kurz umziehen, raus aus den Bundestrainerklamotten, wieder rein in das Sportdirektor-Sakko, und dann fahnden.



