WM der Fußballerinnen

Metamorphose der Fußballerinnen: Harry Kane und King Charles gratulieren

WM-Finalist England hat im Frauenfußball die einstige Führungsrolle von Deutschland übernommen. Der DFB hinkt in vielen Bereichen hinterher.

Englands Trainerin Sarina Wiegman wird nach dem Einzug ins WM-Finale von der früheren Nationalspielerin Jill Scott umarmt.
Englands Trainerin Sarina Wiegman wird nach dem Einzug ins WM-Finale von der früheren Nationalspielerin Jill Scott umarmt.imago

Irgendwie will das Dauergrinsen aus ihrem Gesicht nicht mehr verschwinden. Jill Scott trägt ihre Zufriedenheit offen zur Show, wenn sich die 36-Jährige die vergangenen Tage in Sydney durch das Mediencenter im Australia Stadium bewegte. Statt wie früher auf dem Rasen mischt sie nach ihrem Karriereende im vorigen Sommer nur am Rande mit. Eigentlich wollte die frühere englische Nationalspielerin zu dieser WM keine Kommentare abgeben, denn: „Wenn ich Keira Walsh sage, dass sie einen besseren Pass spielen soll, ist das wahrscheinlich ein bisschen heuchlerisch. Sie würde denken: ‚Jill, du kannst nicht weiter als 15 Yards passen.‘“

Aber nun schreibt sie doch Kolumnen, gibt Interviews, denn eine bessere Zeitzeugin für die Metamorphose gibt es kaum. Früher wurden die Lionesses im eigenen Königreich müde belächelt. Doch das Interesse auf der Insel gilt an diesem Wochenende wieder einmal den Fußballerinnen, denn Englands Frauen können nach der gewonnenen Europameisterschaft im eigenen Land nun im Finale gegen Spanien (Sonntag 12 Uhr, ZDF) erstmals Weltmeister werden.

Verband und Vereine stecken mehr Ehrgeiz und Geld ins Projekt

Das hätte die WM-Rekordspielerin Scott nie für möglich gehalten, als sie im August 2006 ihr erstes von 161 Länderspielen bestritt. Wer die Verwandlung in ein Weltklasseteam ergründen will, muss in die Zeit eintauchen, in der die Mittelfeldspielerin eine prägende Figur gab. Beispielsweise noch bei der WM 2015. England hatte Gastgeber Kanada aus dem Turnier gekegelt, ehe im Spiel um den dritten Platz der allererste Sieg gegen Deutschland glückte (1:0). Damit konnten Medien und Gesellschaft endlich etwas anfangen. Die teils noch höhnische Berichterstattung und antiquierten Kommentare liefen allmählich ins Leere, in den kommenden Jahren wuchs die gesellschaftliche Akzeptanz rasant.

Die Football Association (FA), die erst 1993 den Frauenfußball offiziell aufgenommen hatten, erhielt eine Vorahnung, dass ein zu den Olympischen Spielen in London 2012 ausgelegter Fünfjahresplan aufgehen könnte. Verband und Vereine steckten noch mehr Ehrgeiz und Geld in das Projekt, mit den Frauen eine Führungsrolle einzunehmen. Die beanspruchte 2016 erst mal weiterhin der Deutsche Fußball-Bund (DFB), als sich Titelsammlerin Silvia Neid mit dem Olympiasieg verabschiedete. Doch ihre überforderte Nachfolgerin Steffi Jones gefährdete für die DFB-Frauen bereits die Qualifikation für die WM 2019.

Bei der Endrunde in Frankreich sollten sich die Kräfteverhältnisse verschieben. Das englische Ensemble hatte einen Powerstil adaptiert, der sich am Weltmeister USA orientierte, der nur mühsam im Halbfinale die Oberhand behielt, während das deutsche Team unter der aus der Schweiz geholten Martina Voss-Tecklenburg im Viertelfinale an Schweden scheiterte. Im November 2019 später strömten 77.768 Fans nach Wembley, um das Freundschaftsspiel England gegen Deutschland (1:2) zu verfolgen. Eine DFB-Delegation ließ sich im Stadion erklären, wie es FA und die Women’s Super League (WSL) schafften, so viel Unterstützung bei Stakeholdern zu wecken.

Deutschland schien vergangenen Sommer wieder den Anschluss geschafft zu haben, als das EM-Finale gegen Gastgeber England erst in der Verlängerung (1:2) verloren ging. Doch die Schlussfolgerungen für die folgende WM hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Voss-Tecklenburg ihre durch Fernsehshows tingelnde EM-Heldinnen in Watte packte, nahm Sarina Wiegman keine Rücksicht. Auch ihre Stars hätten nach dem EM-Rausch kaum noch Ruhe gehabt, erklärte die 53-Jährige nach dem Halbfinale gegen Australien (3:1), aber sie habe ihnen immer deutlich gemacht, dass sie noch mehr Entbehrungen auf sich nehmen müssten.

Mehr Technik, Taktik und Athletik im Fußball der Frauen

Vor einigen Tagen hob sie auf dem Pressepodium einmal die Hand auf Kopfhöhe, um die gestiegenen Anforderungen in Sachen Technik, Taktik und Athletik zu beschreiben. Englands Verteidigerin Alex Greenwood zog gegen Australien in letzter Minute ohne Rücksicht auf Verluste voll durch, während Deutschlands Stürmerin Jule Brand gegen Kolumbien von der Härte fast erschrocken wirkte. Der DFB staunte im Frühjahr nicht schlecht, welche Fitnesswerte die Mutter gewordene Melanie Leupolz vom FC Chelsea mitbrachte – bessere als fast jede Bundesligaspielerin.

Weitere Details machen den Unterschied: Für die WM gilt bei den Engländerinnen ein Social-Media-Verbot, weil das Wetteifern um Aufmerksamkeit den Spielerinnen mittlerweile bares Geld bringt. Statt Klicks und Likes sollten aber Zweikampfwerte und Passquoten zählen. Beide Verbände entschieden sich wegen des Spielplans für ein Quartier an der australischen Central Coast. Während die Deutschen in ihrem abgelegenen Golf-Resort in Wyong von Land und Leute so viel mitbekamen wie in einem RTL-Dschungelcamp, wohnten die Engländerinnen in einem Wohlfühlhotel im Badeort Terrigal. Nebendran Cafés und Strand – und zum Training ins Stadion des Fußballmeisters Central Coast Mariners war die Busfahrt auch nicht unzumutbar. Dort sah oft das Aufwärmprogramm der Engländerinnen schon aus wie eine angeblich „rote Einheit“ bei den Deutschen.

Abwehrchefin Bright lobt Trainerin Wiegman

Was sich bei den körperlichen Voraussetzungen getan hat, illustrieren Bilder von Torhüterin Mary Earps – früher beim VfL Wolfsburg und heute im Nationalteam. Aus einer damals leicht übergewichtigen Torfrau ist eine drahtige Welttorhüterin geworden. „Dafür habe ich hart gearbeitet“, sagt die 30-Jährige. Und hätte jemand gedacht, dass Abwehrchefin Millie Bright mit fast 30 noch mal mit Flachpässen aufbauen statt hohe Bälle nach vorne bolzen würde? Neuerdings sogar aus einer Dreierkette. Es muss an einem professionellen Setting liegen, wenn Akteurinnen in diesem Alter noch einmal ein anderes Niveau erreichen. Wobei Bright just betonte: „Ich habe es schon eine Million Mal gesagt. Die Mentalität dieser Mannschaft ist etwas, das ich noch nie gesehen habe. Das kommt von Sarina.“ Sie meinte die vor zwei Jahren aus den Niederlanden verpflichtete Erfolgsgarantin Wiegman.

Diesen Baustein brauchte es also, um Gipfel zu besteigen. Wenn es im Olympic Park von Sydney so käme, würde dieses Team nicht nur am Trafalgar Square präsentiert, sondern vielleicht im offenen Bus durch London kutschiert. Schließlich würde sich der historische Bogen zu 1966 schließen, als die Männer das einzige Mal einen WM-Pokal gewannen. Solche Parallelen sind zwar an die Trainerin Wiegmann vor dem WM-Endspiel herangetragen worden, aber was sollte eine 1969 in Den Haag geborene Fußballlehrerin dazu sagen? Nichts. Der Erfolg spricht für sie. Und den englischen Fußball, zu dem sich auch noch Jill Scott zugehörig fühlt.