Fußball und Fans. Aktion und Reaktion. Am Sonnabend war das Phänomen von Kraft und Gegenkraft beim 2:3 (2:3) zwischen Hertha BSC und dem FC Bayern München nicht nur auf dem Rasen zu beobachten, sondern auch auf den Tribünen des Berliner Olympiastadions. Die Bundesliga-Partie verlief für Hertha ähnlich wie etliche Begegnungen zuvor: Das Team von Sandro Schwarz startete gut eingestellt, mutig und mit einem Plan. Doch ein kleiner Fehler und dann noch einer und noch einer machten den Plan zunichte. Nach 38 Minuten stand es 3:0 für die Münchner.
Zunächst hatte Jamal Musiala nach einem Ballverlust von Suat Serdar im Mittelfeld getroffen. Und dann zeigte Erik Maxim Choupo-Moting, wie es aussieht, wenn ein echter Neuner im Strafraum aufkreuzt und weiß, wo er was zu tun hat, wenn der Ball angeflogen kommt. Sein Doppelschlag in der 37. und 38. Minute, bei dem er jeweils halb im Fallen, halb im Liegen traf, brachten den Favoriten mit drei Toren in Front.
Verrückte acht Minuten mit je zwei Toren für München und Berlin
Uneinholbar eigentlich. Aber Hertha BSC hatte in dieser Saison schon öfter gezeigt, dass Spielstände, die aussichtslos zu sein scheinen, nicht aussichtslos sind. Und so flankte Marco Richter in der 40. Minute schön von rechts in den Strafraum. Und Dodi Lukebakio zeigte sein neues Selbstvertrauen: Er nahm den Ball volley und traf aus zehn Metern zum 1:3.
Dann hatte Davie Selke, der von Anfang an spielte, seinen Auftritt. Das heißt, zunächst lag er nach einer Berliner Flanke erst mal neben Manuel Neuers Fünf-Meter-Raum auf dem Boden und krümmte sich. Es meldete sich der Kölner Keller. Schiedsrichter Bastian Dankert zeigte auf den Elfmeterpunkt. Die Videobilder hatten verdeutlicht, dass Benjamin Pavard Selke brutal auf den Fuß getreten war, ihn nach dem Eckball behindert hatte. Selke stand also da, die Hände in die Hüften gestemmt. Dann trat er in der 45. Minute zum Strafstoß an – und schickte Neuer in die falsche Ecke: 2:3. Verrückte acht Minuten.
Sie ließen für die zweite Spielhälfte einiges erhoffen: noch mehr Tore. Noch mehr Verrücktes. Für die Zuschauer am Fernsehbildschirm. Und für die knapp 75.000 Zuschauer im ausverkauften Olympiastadion. Die hatten sich schon zu Beginn der Partie positioniert – nicht nur anhand von Trikots, Schals und Vereinsflaggen für ihren Lieblingsklub in Blau-Weiß oder Weiß-Rot, sondern darüber hinaus. Im Bayern-Block fragte ein Banner danach, ob jemand Argumente für eine Weltmeisterschaft in Katar habe.
Die Berliner Ostkurve hatte keines, jedoch eine Menge Argumente gegen die WM notiert: „Missachtung von Menschenrechten“, „klimatisierte Stadien statt Klimaschutz“, „nie dagewesener Grad an Korruption“, „keine Rechte für Frauen“, „Ausbeutung von Gastarbeitern“, „keine Fußballkultur im Land“ etwa.
Boykottaufrufe gegen die WM in Katar in Berlin und Dortmund
Dass zur Fußballkultur auch Fankultur gehört, zeigten die Anhänger der Münchner und der Berliner in einem Banner in roter und einem in blauer Farbe, auf dem ihre Kernbotschaft zur WM in Katar stand, die am 20. November beginnt: „15.000 Tote für 5760 Minuten Fußball! Schämt euch!“ Und auf Höhe der Mittellinie hing an der Gegengeraden ein großes Plakat mit der Aufschrift „Boycott Qatar 2022“.
Ähnlich protestierten parallel die Fans beim Spiel zwischen Dortmund und Bochum. Über die ganze Breite der Südtribüne war dort auf gelbem Untergrund ebenfalls „Boycott Qatar 2022“ zu lesen, dazu etwa eine Fahne mit Fernseh-Störbild: „Qatar abschalten“.
Zurück in Berlin wurden die ersten Spielminuten nach der Pause von blauen Rauschschwaden vernebelt. Die restliche Spielzeit mühten sich beide Teams, Torchancen zu kreieren. Doch bis auf ein Eigentor von Agustin Rogel, das letztlich nicht zählte, weil Bayerns Musiala zuvor im Abseits gestanden hatte, traf keines der beiden Teams mehr.
Und dann? War es wie zuletzt oft. Das Hertha-Team dankte den Fans nach dem Schlusspfiff. Die Fans dankten dem Team. Offenbar ist die Gemengelage trotz der Bilanz von sechs Niederlagen bei nur zwei Siegen und trotz ebenso fataler Nähe zu den Abstiegsplätzen wie vor Jahresfrist so, wie es Lukebakio formulierte: „Jeder sieht, dass wir eine andere Hertha sind.“ Eine Hertha, die knapp dran ist an den Topteams, im Dilemma zwischen Bauch und Zahl. „Wie wir als Mannschaft aufgetreten sind und bis zuletzt den Glauben aufrechterhalten haben, war sehr gut. Das gilt auch für die Leute im Stadion“, sagte Schwarz.


