Vorbericht Union

Und dann kommt plötzlich alles anders: Die seltsame Regelmäßigkeit bei Union Berlin

Der 1. FC Union hat in dieser Saison öfter zu null gespielt als die Bayern und Dortmund. Aber manchmal fallen die Gegentore im Minutentakt. Was ist da nur los? 

Pariert 80,5 Prozent aller Schüsse aufs Tor: Unions Torwart Frederik Rönnow
Pariert 80,5 Prozent aller Schüsse aufs Tor: Unions Torwart Frederik RönnowMichael Taeger/imago

Mit den Jahren haben etliche Fußball-Kalauer Patina angesetzt und deren Erfinder ihre Magie verloren. So die einstige Weisheit darüber, dass ein Spiel neunzig Minuten dauere. Dass dem schon lange nicht mehr so ist und teils acht, neun und sogar zehn Minuten draufgepackt werden, ist fast schon selbstverständlich und ließe selbst Urgesteine wie Sepp Herberger an der Ernsthaftigkeit ihrer Aussagen zweifeln. Dazu kommt, dass der Alt-Bundestrainer von Nettospielzeit nie etwas gehört hatte. Die liegt nicht erst seit der Weltmeisterschaft in Katar deutlich unter den von ihm propagierten neunzig Minuten, und diese wurden selbst dort trotz extralanger Nachspielzeiten – schon die erste Halbzeit dauerte im Schnitt vier, die zweite dann sogar siebeneinhalb Minuten länger – nicht im Ansatz erreicht.

Ähnlich ist es in den großen europäischen Ligen. In England dauern die Spiele in der Premier League mit im Schnitt 99 Minuten und 22 Sekunden am längsten, die Nettospielzeit jedoch beträgt gerade einmal 54 Minuten und 39 Sekunden. Der Rest geht durch mannigfaltige Unterbrechungen, im Schnitt sind es an die 100, flöten. In Deutschland pfeifen die Schiedsrichter nach 96 Minuten und 43 Sekunden ab, trotzdem ist der Ball nur 53 Minuten und 19 Sekunden im Spiel. Wer darin Vorteile für einen Glücklos-Stürmer erkennen möchte, hat gute Karten: Manche Ladehemmung, wie die von Union-Angreifer Sheraldo Becker, bei dem zwischen seinem siebten Saisontreffer, dem im November beim 2:2 gegen Augsburg, und seinem achten, dem 1:0 beim 3:0 vor einer Woche gegen den VfB Stuttgart, 918 Minuten vergangen waren, ist damit – Abrakadabra – nahezu halbiert.

Mag mancher darin ein Phänomen sehen oder der Ruf nach effektiver Spielzeit, wie sie in anderen Mannschaftssportarten längst üblich ist, laut werden. Eine Spielerei mit Minuten und Sekunden ist selbst auf die Gefahr hin, dass daraus höchstens eingefleischte Statistik-Freaks ihre Schlüsse ziehen können, aufschlussreich – und der 1. FC Union das Paradebeispiel für Enthusiasmus hier und Enttäuschung da. Die Rot-Weißen bedienen fast spielend die Extreme der Liga. Innerhalb weniger Tage haben die Männer aus der Alten Försterei bewiesen, dass es bei ihnen, egal in welche Richtung, ganz schnell gehen kann. Gegen Stuttgart reichten starke siebzehn Minuten, um das 3:0 einzutüten. Drei Tage später im Pokal leisteten sich die Eisernen bei Eintracht Frankfurt den fragwürdigen Luxus, zwei Gegentore in 93 Sekunden zu kassieren und aus dem Wettbewerb zu fliegen.

Frederik Rönnow und Lennart Grill haben zusammen in zehn Spielen die Null gehalten

Manchmal hat womöglich sogar Urs Fischer seine Mühe, aus seinem Team, das er nun schon fast fünf Jahre betreut, schlau zu werden. Einerseits ist die Abwehr um Christopher Trimmel und Robin Knoche ein Bollwerk, andererseits – der Trainer mag das als Eidgenosse nicht persönlich nehmen – löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Tabellendritte hat die wenigsten Gegentore geschluckt, 28 sind es in 26 Spielen. Frederik Rönnow und Lennart Grill, die beiden Torhüter, haben zusammen in zehn Spielen die Null gehalten. Das ist Ligaspitze. Öfter ist das keinem Team gelungen. Tabellenführer Bayern München hat es trotz der beiden Weltklasse-Torhüter Manuel Neuer und Yann Sommer nur in acht Spielen geschafft, Borussia Dortmund, Unions Gegner im Topspiel dieser Runde am Sonnabend, 15.30 Uhr, in neun.

Zur Wahrheit bei den Eisernen gehört in dieser trotz allem einmaligen Spielzeit allerdings auch, dass es ratzfatz auch ganz anders kommt. Manchmal legen sie einen Spagat hin von null bis Hucke voll und brauchen dazu nicht einmal eine Halbzeit. So schnell, wie sich bei ihnen der Wind drehen kann, so schnell kann nicht einmal Fischer immer eingreifen, um seine Männer wieder auf Kurs zu trimmen. Das passiert, nicht nur für den Trainer viel zu häufig, inzwischen ziemlich regelmäßig.

Acht mal ohne Gegentor in der Bundesliga: Frederik Rönnow
Acht mal ohne Gegentor in der Bundesliga: Frederik RönnowMatthias Koch/imago

Beim Sieg gegen Stuttgart hatten die Rot-Weißen die Kurve bekommen, trotzdem musste der Coach zugeben: „Im ersten Durchgang haben wir alles vermissen lassen, das war ein Spiel ohne Schärfe und ohne Tempo. Nach dem Seitenwechsel ist die Mannschaft so aufgetreten, wie es sein sollte.“ Auch Sheraldo Becker hatte, obwohl nach dem Ende seiner Torflaute im Gefühlshoch, nüchtern festgestellt: „Die erste Hälfte war nicht gut von uns, da waren wir nicht aggressiv genug und haben ohne Power gespielt. In der Kabine hat der Trainer die richtigen Worte gewählt, danach war es besser.“

Beim Pokal-Aus in Frankfurt gab es das gleiche Dilemma. „Speziell die erste Halbzeit hat den Unterschied ausgemacht“, fand Christopher Trimmel, „hätten wir gleich so agiert wie in der zweiten Halbzeit, dann wäre mehr möglich gewesen.“ Rani Khedira, der Stratege vor der Abwehr, erkannte gar ein wiederkehrendes Muster: „Zum dritten Mal hintereinander spielen wir eine katastrophale erste Halbzeit. Die letzten Male hatten wir dann Glück, diesmal war das nicht so, und dann rennt man schnell einem Rückstand hinterher.“ Nicht anders sah es Fischer: „Wenn du zwei Tore in den ersten 15 Minuten bekommst, dann wirkt das nach. Man hat die ganze Halbzeit gesehen, dass wir verunsichert waren und wenig Zugriff hatten, in der zweiten waren wir wieder einmal wie ausgewechselt und hatten auch unsere Chancen.“

Ab und an gelingt es den Eisernen, schlaffe Phasen oder einen Rückstand zu reparieren. Manchmal aber sind sie auch ganz gut darin, in 45 Minuten, die netto eine verdammt viel kürzere Spielzeit ausmachen, alles in den Sand zu setzen.

Kurze Abschnitte genügten, um das komplette Spiel zu schreddern

Die Wende zum Guten haben sie in dieser Saison bereits in vier Partien geschafft. Manchmal, wie beim 2:1 gegen Mönchengladbach, dauerte es bis zur siebten Minute der Nachspielzeit, manchmal, wie beim 2:1 in Leipzig, ging es im Eilzugtempo und passierte innerhalb von sieben Minuten. Auch die übrigen gedrehten Partien, das 2:1 in Bremen und vor allem das 3:1 gegen Hoffenheim, als es in Minute 88 noch 1:1 stand, glichen einem Tanz auf dem Seil und hatten Momente voller Verunsicherung. Zugleich hat es eine Menge Spiele gegeben, in denen kurze Abschnitte genügten, um das komplette Spiel zu schreddern. Fünf Gegentore nach der Pause in einer halben Stunde sorgten für ein 0:5 in Leverkusen, in Freiburg (1:4) waren es drei in einer Viertelstunde, beim 0:3 in München war ebenfalls innerhalb von fünfzehn Minuten alles passiert.

Auch in der Vergangenheit hat es solche Ausbrüche gegeben. Nur hat da eher jemand ein Auge zugedrückt, kann mal passieren, weil erst ziemlich neu in der Bundesliga dabei, fehlende Erfahrung, mangelnde Cleverness und überhaupt. Selbst in Dortmund, mieses Vorzeichen hin oder ernsthafte Mahnung her, hat es Gegentore geradezu gehagelt. Gleich in der ersten Saison in der Bundesliga wurden die Eisernen mit einem 0:5 vom Platz geschossen. Die Zeitfenster für die Gegentore: Die beiden vor dem Wechsel fielen innerhalb von fünf, die drei danach innerhalb von acht Minuten.

Nicht einen Punkt hat Union in Dortmund geholt

Dortmund ist für die Männer aus der Alten Försterei ohnehin das heißeste Pflaster. Nicht einen Punkt, was ihnen sogar schon in München gelang, haben sie dort geholt. Zudem sind elf Gegentore in drei Spielen (die Bayern schafften in vier Partien in ihrer Allianz-Arena zehn) das, was den Eisernen beim erneuten Trip nach Westfalen am meisten Sorgen bereitet.

Obwohl Erling Haaland, auf dessen Konto vier der elf Gegentore dort gehen, nicht mehr für den BVB stürmt, sollte den Köpenickern gegen den trotzdem zweitbesten Angriff klar sein: Ob in 54 Minuten effektiver Spielzeit oder mit sieben, acht, neun oder noch mehr Minuten Nachspielzeit, nur eine gute Halbzeit wie zuletzt so häufig dürfte nicht genügen, um im Topspiel des Dritten beim Zweiten zu bestehen. Wenn Trimmel & Co jedoch endlich mal über das komplette Spiel alles raushauen, was sie so stark gemacht hat, dann …