Der Tag war lang, man freut sich auf das Kind und beeilt sich, es aus der Kita oder von der Schule abzuholen. Umarmung, Küsschen, schnell nach Hause – und dort rastet der sonst so zuckersüße Liebling plötzlich aus, schreit, weint, wütet, ist komplett out of order. Warum ist das so?
Dr. Christian Lüdke ist Kindertherapeut mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung und hat selbst zwei Kinder großgezogen. Er weiß: „Die Ausraster am Nachmittag gehören für Kinder bis zum Alter von etwa acht bis zehn Jahren dazu, weil es Teil ihres natürlichen Entwicklungsprozesses ist.“ Insofern ist das Theater, das viele Eltern tagtäglich zur Verzweiflung treibt, vollkommen normal. Und wenn wir Großen mal ganz ehrlich wären, würden wir feststellen: Manchmal wollen wir auch einfach nur losschreien und pöbeln und unseren ganzen Frust rauslassen. Tun wir aber nicht, weil wir andere Kompensationsstrategien im Laufe unseres Lebens erlernt haben.
Schritt eins: Verstehen Sie Ihr Kind
„In Betreuungseinrichtungen baut das Kind den Tag über Druck auf, weil es sehr viele Anpassungsleistungen bringen muss“, fasst Dr. Christian Lüdke zusammen. „Sie müssen sich anpassen, teilen, zurückstecken, alleine Lösungen finden, Kompromisse aushandeln. Das stresst alles enorm.“ Es sind also tausend Kleinigkeiten, die in Kita, Schule und Hort für Frust sorgen – und diese kumulieren sich dann bis zum Zeitpunkt des Abholens. Und dann bricht es aus ihnen heraus.
Und dieses Herauslassen aller Emotionen sollten Sie doppelt positiv bewerten: Zum einen ist Ihr Kind in der Lage, seinen Ärger rauszulassen, frisst ihn nicht in sich hinein. „Das ist gut, denn wenn Kinder schon früh lernen, dass es nicht okay ist, die komplette Klaviatur der uns zur Verfügung stehenden Gefühle auszunutzen und auszuleben, werden sie wahrscheinlich eine Anpassungsstörung im Erwachsenenalter entwickeln“, so der Kindertherapeut. Das heißt nicht, dass Ihr Kind um sich schlagen oder Schimpfwörter benutzen darf. Aber wenn es seinen aufgestauten Druck abbaut, indem es scheinbar grundlos oder aus nichtigem Anlass weint, ist das zunächst eine naheliegende Strategie. Super!
Der andere Punkt ist: Nur Kinder, die sich gut gebunden und emotional geborgen fühlen, können derart die Fassung verlieren. Warum wohl ist Ihr Kind in Kita oder Schule meistens brav und freundlich? Weil es – ohne dass es das wüsste – fürchtet, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und nicht mehr geliebt zu werden. Bei Ihnen ist es sich sicher: Mama und Papa bleiben da, egal, wie ich mich verhalte. Die lieben mich um meiner selbst willen. Wenn Ihr Kind jedoch fürchtet, dass es bestraft wird, kann es seine Gefühle nicht so sehr ausleben. Und das kann, wie bereits beschrieben, Auswirkungen bis ins Erwachsenenleben haben.
Fazit: Führen Sie sich vor Augen, was Ihr Kind den Tag über geleistet hat. Es hat wirklich schwer gearbeitet, auch wenn es „nur“ gespielt hat. „Das ist aus vielen verschiedenen Gründen wahnsinnig anstrengend“, weiß Dr. Christian Lüdke. „Weil Ihr Kind das nicht artikulieren kann, muss es weinen. Denn Kinder kommunizieren über Ihre Gefühle.“ Das wiederum geht besonders gut, wenn das Kind sich ganz sicher fühlt – und am sichersten ist es in der Regel in der Beziehung zu seinen Eltern. Sie sind der Puffer! Wenn Sie das mit dem Herzen verstehen, wird Ihnen das nachmittägliche Weinen und Toben nicht mehr so sehr zusetzen. Das Schreien ist ein Kompliment an Sie.
Schritt zwei: Zeigen Sie, wie man mit Emotionen richtig umgeht
Wir alle mussten lernen, unsere Gefühle zu kanalisieren. Wir fassen sie meistens in Worte, beschreiben unsere Lage, weinen nur in Ausnahmesituationen. Abgesehen davon gibt es unzählige Strategien, mit Stress umzugehen – und nichts anderes empfinden unsere Kinder tagsüber, wenn sie in der Betreuung sind. Was machen Sie, wenn Ihnen alles zu viel wird? Sport? Yoga? Stricken? Etwas naschen? Tagebuch schreiben? All das können unsere Kinder noch nicht.
Helfen Sie Ihrem Kind, seine Emotionen zunächst kennenzulernen. Benennen Sie, was es fühlt: „Jetzt ärgerst du dich.“ Oder: „Ich sehe, dass du wütend bist.“ Oder: „Ich kann verstehen, dass dich das traurig macht.“ Indem Sie die Gefühle konkret benennen, lernt auch Ihr Kind die richtigen Worte dafür kennen und entwickelt so eine innere Landschaft an Emotionen. Das gibt Halt.
Außerdem sollten Sie Ihrem Kind zeigen, dass man ruhig bleiben kann, obwohl man gestresst ist. Und natürlich stresst Sie das Schreien Ihres Kindes. Ziehen Sie also nicht die Stimme an, sondern bleiben bei Ihrer normalen Tonlage. „So lernt Ihr Kind, dass man nicht sofort zurückschreien muss, wenn einem etwas nicht passt. Vielmehr wird es merken, dass Sie sich nicht aus der Fassung bringen lassen und ein Fels in der Brandung sind“, sagt Dr. Christian Lüdke. „Das ist eine Investition nicht nur in ihre Eltern-Kind-Bindung, sondern auch in die künftige Streitkultur Ihres Kindes.“
Sofern Ihr Kind es zulässt, berühren Sie es vorsichtig, stellen Sie Körperkontakt her – auch das ist eine Form der Kommunikation, und zwar eine sehr liebevolle. Wenn es das nicht möchte, lassen Sie es. Will es allein sein, ziehen Sie sich ohne Ärger zurück und sagen Sie, dass Sie in der Nähe bleiben. So respektieren Sie die Grenzen Ihres Kindes und lassen ihm die Chance, sich gesichtswahrend zu beruhigen.
Fazit: Wenn Sie selbst laut werden, schaukelt sich die ganze Situation nur noch mehr hoch und am Ende sind Sie beide total abgekämpft und erschöpft. „Das nützt niemandem und ist Gift für Ihre Beziehung. Sie sind erwachsen und überblicken die Situation, Ihr Kind nicht“, erklärt der Experte. „Wenn Sie Ihrem Kind in ruhigem Ton erklären, was bei ihm innerlich gerade abläuft, legen Sie den Grundstein für eine robuste Psyche, weil das Kind sich verstanden und ernst genommen fühlt.“ Es merkt, dass alle Gefühle sein dürfen und dass sie natürlich zu einem selbst gehören. Seien Sie ein Vorbild, indem Sie benennen, erklären und aufnehmen.
Schritt drei: Nehmen Sie dem Frust den Wind aus den Segeln
Stellen Sie sich darauf ein, dass Ihr Kind gestresst sein wird. „Das bedeutet nicht, dass Sie emotional gepanzert in den Kampf ziehen sollen, sondern dass Sie selbst möglichst ausgeglichen sind“, so der Kindertherapeut Lüdke. Versuchen Sie, nicht unter Zeitdruck in der Kita oder im Hort anzukommen, schieben Sie Ihre eigenen stressigen Momente beiseite, konzentrieren Sie sich auf Ihr Kind und fühlen Sie sich gewappnet, den aufgestauten Frust Ihres Kindes aufnehmen zu können. Manchmal hilft es, kurz vor dem Abholen noch eine kleine Pause zu machen – auf diese paar Minuten kommt es sicher nicht an. Sie haben bestimmt die Wahl: pünktlich und ausgepowert oder etwas verspätet, aber dafür einmal kurz verschnauft.
Probieren Sie, schon beim Abholen kurz auszuloten, wie der Tag war. Sie können die Erzieherinnen und Erzieher oder das Hortpersonal fragen, weil Kinder selbst erfahrungsgemäß nicht so auskunftsfreudig sind. Je nachdem, was Sie erfahren, können Sie anknüpfen: Positive Erlebnisse ansprechen, danach fragen, sie gemeinsam bewerten. Gab es jedoch einen Streit, sollten Sie das aufgreifen und dabei aber auf Augenhöhe gehen: „Schatz, stimmt es, dass du dich heute gestritten hast? Oje, das stelle ich mir sehr schlimm vor.“ „So ordnen Sie nicht nur die Gefühle ein, was Ihr Kind alleine nicht kann, sondern Sie ebnen auch den Weg, anders als mit Weinen damit umzugehen“, sagt Dr. Christian Lüdke.
Wenn Ihr Kind jammert, es möchte jetzt nicht nach Hause laufen oder das Auto ist blöd, seien Sie verständnisvoll. Sagen Sie vielleicht: „Ach, ich kann dich so gut verstehen, ich würde jetzt auch lieber im Sand spielen, aber du weißt ja, dass wir jetzt nach Hause müssen. Lass uns gehen und danach überlegen wir zusammen, was wir Schönes machen können.“ „Halten Sie Augenkontakt, bleiben Sie offen und versuchen Sie, die momentane Gefühlswelt Ihres Kindes einzufangen“, rät der Kindertherapeut. Fragen Sie, was Ihr Kind gern tun würde. Möglicherweise können Sie einen Kompromiss aushandeln?
Fazit: Wenn Sie sich selbst so aufstellen, die Emotionen Ihres Kindes abzufedern zu wollen, sind Sie im Vorteil. Sie werden nicht von einem Gefühlsausbruch überrascht, sondern sind vorbereitet und können Ihr Kind dadurch auffangen, sodass es sich von Anfang an verstanden fühlt und den Stress nicht in einem großen Knall loswerden muss. „Vielmehr wird es beruhigt sein, weil es merkt, dass es ernst genommen wird und nicht auf sich allein gestellt ist“, so der Experte. Der Ärger kann einfach leise herausfließen, indem man darüber redet.






