Inklusion

Brauchen wir (wieder) Schulkrankenschwestern?

Ärzte, Lehrer, Verbände fordern schon lange, Gesundheits-Berater an Grundschulen zu installieren. Was wären die Vorteile? Wie profitieren auch Eltern davon?

Medizinisches Fachpersonal an Schulen könnte auch für psychische Entlastung von Kindern sorgen (Symbolfoto).
Medizinisches Fachpersonal an Schulen könnte auch für psychische Entlastung von Kindern sorgen (Symbolfoto).imago

Früher war es die Schulkrankenschwester, die Schürfwunden verarztete, Tränen trocknete, Kühlis verteilte und echte Notfälle schnell erkannte. Heutzutage müssen das Lehrerinnen und Lehrer sowie das Hortpersonal übernehmen, obwohl sie keine medizinischen Fachleute sind. Vor allem für Kinder mit chronischen Erkrankungen ist das ein Problem. In Skandinavien und den USA gibt es solche ‚school nurses‘, bei uns nicht, was Experten beklagen.

Kinder im Rollstuhl beispielsweise brauchen zum Teil Hilfe, um auf die Toilette zu gehen. Dafür gibt es Inklusionshelferinnen und -helfer, also spezielles Personal, das Kinder mit besonderen Bedürfnissen unterstützt. In der Praxis ist es jedoch so, dass diese I-Fachkräfte entweder nur stundenweise vor Ort sind oder sich um mehrere Kinder kümmern müssen. Zudem ist es für die Kinder auch nicht schön, wenn ihr Anderssein dadurch herausgestellt wird, dass eine spezielle Person nur für sie da ist. Bei einer Gesundheitsfachkraft, die für alle da ist und gerufen werden kann, wenn es nötig ist, wäre das mutmaßlich anders.

Das zumindest sind die Erfahrungen, die das Land Brandenburg gemacht hat. Insgesamt 27 Schulen in neun Landkreise nehmen seit 2017 an einem Modellprojekt teil. In der Evaluation der Maßnahme steht, dass Schulpflegekräfte „die körperliche Gesundheit und auch das psychosoziale Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sowie von Eltern, Lehrenden und anderen Personen an den Schulen positiv beeinflussen“ könnten.

Weiter heißt es in dem Bericht: „Als struktureller Vorteil gilt, dass die Pflegefachpersonen in den Schulen selbst angesiedelt sind und – anderes als vergleichbare Initiativen – nicht erst von außen hinzugezogen werden müssen. Sie verfügen somit über ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem Setting und den dort lebenden, lernenden und arbeitenden Menschen und können sich ihnen mit hoher Kontinuität als Gesprächspartner*innen und Begleitende in Gesundheitsfragen anbieten.“

Denn die Expertinnen und Experten arbeiten auch präventiv, klären über gesunde Ernährung, die Bedeutung von Sport sowie zu viel Medienkonsum auf. Zudem haben sie ein Auge auf die psychische Gesundheit der Kinder, können Tipps gegen Mobbing geben. Und gerade in der Grundschulzeit werden in all diesen Bereichen die Weichen für die Zukunft gestellt. Schulgesundheitsfachkräfte können, so die Evaluationsstudie, Fehlzeiten verhindern, „indem sie eine gesundheitliche Versorgung vor Ort gewährleisten“. Dann muss man mit dem Kind wegen eines Verbandswechsels eben nicht zum Arzt.

Anderes Beispiel: Kinder mit Atemwegserkrankungen brauchen in der Regel Notfallmedikamente, die sie sich nicht immer selbst verabreichen können, weil die Luftnot zu groß ist. Asthmatikerinnen und Asthmatiker müssen mitunter mehrmals am Tag inhalieren. Wer kümmert sich darum? Wer kennt sich damit aus? Wer weiß, was im Notfall zu tun ist? Die Modellprojekte haben gezeigt, dass die Zahl der Notrufe von Schulen deutlich zurückgeht, wenn Gesundheitsfachkräfte vor Ort sind.

Oder Diabetes: Wenn Kinder an Diabetes erkranken, müssen sie sich bis zu sechs Mal am Tag Insulin spritzen. Das kriegen sie zwar allein hin, aber die benötigte Menge des Hormons muss jedes Mal individuell berechnet werden und ist abhängig von dem, was bereits gegessen und getrunken wurde sowie was als nächstes auf dem Speiseplan steht, aber auch von Bewegung und Stress. „In vielen Fällen ist es so, dass dann ein Elternteil regelmäßig in die Schule kommt, um dem Kind dabei zu helfen. Meistens sind es die Mütter, die aufgrund dessen schließlich ihre Arbeit aufgeben müssen, weil das ständige Hin und Her mit ihrem Job nicht vereinbar ist“, sagt Prof. Dr. Andreas Neu, Kinderarzt und Diabetologe.

Pro Jahr erkranken 3500 Kinder und Jugendliche neu an Diabetes Typ 1. Nicht zuletzt deshalb fordern mehrere medizinische Fachverbände jede Grundschule mit einer Gesundheitsfachkraft auszustatten. In dem Positionspapier, das zum Weltkindertag im September veröffentlicht wurde, heißt es: „Für Kinder mit Diabetes Typ 1 bedeutet dies: verbesserte Glukoseeinstellung, weniger Notfallsituationen, weniger Fehlzeiten und Ausgrenzung, eine insgesamt positivere Lebensperspektive.“ Zu den Unterzeichnern des Schreibens gehört auch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) sowie die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), deren Präsident Prof. Dr. Andreas Neu ist.

Gäbe es an Schulen entsprechende Gesundheitsfachkräfte könnten diese auf die korrekte und regelmäßige Insulingabe achten. Zudem könnten beide Elternteile wie gewohnt arbeiten gehen. „Aktuelle Studien belegen, dass 39 Prozent der Mütter nach der Diabetes-Diagnose des Kindes ihre Arbeitszeit reduzieren, 10 Prozent geben ihren Job komplett auf“, weiß Prof. Dr. Andreas Neu. Entsprechend sind dann die finanziellen Einbußen, mit denen die Familien klarkommen müssen. „All das wäre kein Problem, wenn die erkrankten Kinder kompetent in den Schulen betreut werden könnten.“

Der Schöneberger Kinderarzt Jakob Maske, Sprecher des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), befürwortet Gesundheitsfachkräfte an Schulen generell, er würde sich sogar ein spezielles Schulfach Gesundheit wünschen. Denn: „Gesundheitserziehung ist in jedem Fall sinnvoll, auch für das weitere Leben der Kinder. Es ist gut, wenn die Schülerinnen und Schüler jemanden haben, der ansprechbar ist, der sowohl medizinisch, als auch pädagogisch geschult ist. Vor allem für Kinder mit Diabetes ist es eine große Erleichterung, wenn ausgebildete Fachkräfte sie im Alltag unterstützen. Aber beispielsweise auch bei akuten Asthmaanfällen profitieren Kinder davon, wenn ihnen schnell und kompetent geholfen werden kann.“

Hinzu kommt das Thema Übergewicht: Laut Bundesgesundheitsministerium sind 9,5 Prozent der Kinder zwischen drei und 17 Jahren zu dick, und 5,9 Prozent sind stark übergewichtig, also adipös. Dem kann man mit gesunder Ernährung und Sport entgegen wirken, sofern keine genetischen Ursachen vorliegen. Um hier ein Bewusstsein zu schaffen, die Kinder im Alltag dabei zu unterstützen, ihnen das nötige Wissen zu vermitteln, sind Schulgesundheitsfachkräfte prädestiniert. Darüber hinaus hat medizinisch geschultes Personal einen anderen Blick auf mögliche Hinweise zu körperlicher Gewalt. Ist das nur ein blauer Fleck, oder hat jemand das Kind mit Absicht verletzt?

Aber auch in Zeiten von Corona hätten Gesundheitsfachkräfte an den Schulen beim Testen und Impfen helfen können, wie Hans-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes (DL), betont: „Die Forderung nach der Schaffung von Stellen für Gesundheitsfachpersonal an Schulen teilt und erhebt der Deutsche Lehrerverband schon seit langem, nicht erst, seit durch Corona verstärkt deutlich geworden ist, dass der Gesundheitsschutz an Schulen dadurch erheblich verbessert hätte werden können.“

Darüber hinaus ist es Lehrerinnen und Lehrern ohnehin nicht erlaubt, medizinische Handlungen an Kindern vorzunehmen: „Auch Hilfsdienste sind nicht gestattet“, so Hans-Peter Meidinger. „Außer vielleicht die Versorgung einer Wunde mit einem Pflaster und natürlich Erste-Hilfe-Maßnahmen wie eine stabile Seitenlagerung.“ Die Gabe von Medikamenten, selbst bei nicht-rezeptpflichtigen Arzneien, das Entfernen eines Splitters oder einer Zecke – alles rein rechtlich nicht zulässig. „Als Schulleiter weiß ich, dass in Einzelfällen dazu Eltern für Notfälle wie Epilepsie, Diabetes oder Allergieschocks, Schulen ausdrücklich eine Sondererlaubnis mit Haftungsfreistellung in Bezug auf ihre Kinder erteilen mussten“, so der Lehrerverbands-Vorsitzende.

„Der Ehrlichkeit halber muss man aber auch auf die Herausforderungen hinweisen, die einer schnellen Problemlösung im Wege stehen“, sagt Hans-Peter Meidinger. Denn allein die Kosten würden sich pro Jahr auf mehr als eine Milliarde Euro belaufen. Wer das bezahlen könnte, ist unklar; zwischen Bund, Ländern und Kommunen gibt es immer wieder Kompetenzgerangel. Hinzu kommt ein „eklatanter Personalmangel in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen“, sodass es per se schon zu wenig Fachkräfte gibt. Und wenn diese dann auch noch in die Schulen abwanderten, weil dort die Arbeitsbedingungen besser sind – beispielsweise: kein Nachtdienst -, wäre das für die Krankenhäuser und Pflegeheime ein großes Problem.

Es bleibt also ein politisches Problem. Im gerade vorgelegten Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP kommt das Wort „Gesundheitsfachkräfte“ nicht einmal vor. Auch „chronisch“ wird nicht erwähnt. Dafür findet sich auf Seite 93 dieser Satz: „Wir wollen allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen bieten, Teilhabe und Aufstieg ermöglichen und durch inklusive Bildung sichern.“ Und: „Jedes Kind soll die gleichen Chancen haben.“