Berlin-Ein einziger Blutstropfen reicht, um Gewissheit zu haben: Mit einem Mini-Pikser am Finger lässt sich nachweisen, ob jemand Diabetes hat oder nicht. Die Diagnose dauert kaum fünf Minuten – aber sie ändert alles. „Diabetes mellitus ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern eine unter Umständen lebensgefährliche Erkrankung“, sagt Prof. Dr. Andreas Neu von der Uni Tübingen. Der Kinderarzt ist auch Präsidentder Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und sagt: „Eigentlich müsste jeder, der mit Kindern zu tun hat, mehr über den kindlichen Diabetes wissen, um die Warnsignale frühzeitig zu erkennen.“
Die Rede ist von Diabetes Typ 1, früher als juveniler Diabetes bekannt: Es ist jene Form, die „nicht durch Bewegungsmangel, Fehlernährung oder erhöhtem Süßigkeitenkonsum hervorgerufen wird“, erklärt Prof. Dr. Andreas Neu. Beim Diabetes Typ 2 hingegen spielen diese Faktoren eine große Rolle, ebenso wie Übergewicht. Dieser zweite Typ jedoch tritt in aller Regel erst im Erwachsenenalter auf und wird umgangssprachlich Alters-Diabetes genannt. Eines von 40.000 Kindern und Jugendlichen ist von dieser Diabetesform betroffen. Anders beim Typ 1: Da erkrankt eines von 600 Kindern. Insgesamt leben derzeit rund 32.000 Kinder mit Typ-1-Diabetes in Deutschland.
Die Erkrankung kann nicht nur durch einen Blutstropfen diagnostiziert werden, sondern auch durch einen Teststreifen, der in eine Urinprobe gehalten wird. Bestätigt sich der Verdacht, wird sich das Kind Zeit seines Lebens mehrfach täglich – vier bis sechs Mal – mit Insulin spritzen müssen. Viele Kinder erhalten eine Insulinpumpe, bei der sie nur ein Knöpfchen drücken müssen, um Insulin abzugeben. „Aber das Ausrechnen der benötigten Insulinmenge muss bei jedem Mal individuell geschehen“, erklärt Prof. Dr. Andreas Neu. Eine Alternative zur Insulintherapie gibt es nicht. „Es gibt keine Medikamente, die oral verabreicht werden könnten. Die Kinder sind absolut abhängig von der regelmäßigen Insulingabe. Ohne Insulin sind sie nicht lebensfähig.“ Beim Typ-2-Diabetes produziert der Körper noch ein wenig Insulin, bei Typ 1 gar nichts.
Warum genau ein Kind diese Erkrankung bekommt, ist nicht abschließend geklärt. Die genetische Disposition spielt eine Rolle, so viel ist sicher, aber welche Faktoren wie zusammenkommen müssen – das weiß die Forschung noch nicht. Fakt ist aber: „Wenn ein Kind an Diabetes Typ 1 erkrankt ist, das aber nicht erkannt und behandelt wird, kann es wirklich lebensbedrohlich werden“, warnt Prof. Dr. Andreas Neu. „Deshalb sollten Erziehende, Trainerinnen und Trainer, Lehrpersonal, Hortangestellte, Eltern und Großeltern und alle anderen, die Kinder betreuen, diese Symptome kennen.“
Das sind die Warnzeichen
Meistens beginnt es im Vorschulalter: Das Kind hat plötzlich vermehrt und dauerhaft Durst - und damit ist nicht der Durst nach dem Toben oder an einem heißen Sommertag gemeint, sondern das regelmäßige starke Trinken, unabhängig von konkreten Umständen. Das wäre das erste Warnsignal. Das zweite ist die Folge dessen: Das Kind nässt wieder ein. Tagsüber, weil die Blase die großen Trinkmengen nicht mehr halten kann. Und auch nachts, obwohl das Kind eigentlich schon trocken war. Drittens: Wenn das Kind abnimmt, Sie also einen Gewichtsverlust bemerken, ohne dass es dafür einen Anlass gibt (z.B. eine akute Magen-Darm-Erkrankung), sollten Sie schnell einen Termin beim Kinderarzt oder der Kinderärztin machen. Und wenn Sie das vierte Symptom bemerken, zögern Sie nicht, sich sofort auf den Weg zu machen: „Wirkt Ihr Kind andauernd leistungsschwach, müde, lust- und appetitlos, seien Sie alarmiert“, rät der Mediziner.
Vor allem die Kombination aller vier Anzeichen „muss dazu führen, dass das Kind unmittelbar einem Arzt oder einer Ärztin vorgestellt wird“, fasst Prof. Dr. Andreas Neu zusammen. Geschieht das nicht, könnte das Kind in die sogenannte Ketoazidose rutschen. „Das ist eine schwere Stoffwechselentgleisung, die durch einen Insulinmangel ausgelöst wird“, so der Diabetes-Experte. „Wenn das nicht sofort behandelt wird, drohen schwerwiegende Konsequenzen.“ Schlimmstenfalls kann man in der Ketoazidose versterben.
Das Problem: Beim Typ-1-Diabetes produziert der Körper gar kein Insulin mehr. Das braucht der Körper aber, um Glukose, also Traubenzucker, in die Zellen zu transportieren, wo sie für die Energieproduktion benötigt wird. Steht dem Körper kein Insulin zur Verfügung, baut er stattdessen Fett ab, denn er braucht ja Energie. Doch beim Fettabbau entstehen sogenannte Ketonkörper; das sind saure Stoffwechselprodukte. Wenn diese sich im Blut anreichern, kommt es zu einer Übersäuerung, die Wissenschaftler Azidose nennen.
20 bis 26 Prozent der Kinder mit Diabetes-Typ-1 sind bei Ausbruch der Erkrankung von einer Ketoazidose betroffen – mit unterschiedlichen, aber häufig schlimmen Folgen für ihre Gesundheit. Verhindert werden kann das nur, indem im Prinzip jede und jeder von uns darüber Bescheid weiß. Studien zeigen, dass entsprechende flächendeckende Informationen erfolgreich sind und dazu führen, dass Kinder vor dieser gefährlichen Stoffwechselentgleisung bewahrt werden können.
Bei einer dauerhaft schlecht eingestellten Diabetes-Erkrankung können Patienten erblinden, die Nieren versagen, die Durchblutung gestört werden, sodass gegebenenfalls ein Fuß amputiert werden muss. „All das passiert jedoch erst im Erwachsenenalter, nachdem die Stoffwechsellage über Jahre unzureichend war“, so der Experte.
Da die Folgen so gravierend, die Ursachen aber weithin unbekannt sind, kämpft die DDG für mehr Aufmerksamkeit für die oftmals bagatellisierte und auch stigmatisierte Diabetes-Erkrankung. „Wir brauchen mehr Kenntnis, mehr Aufklärung, mehr Verständnis – nur so kann man verhindern, dass Kinder schwer geschädigt werden“, so Prof. Dr. Andreas Neu. „Wenn wir alle wachsam und kritisch wären, könnten wir Kindern gefährliche Situationen und schwere Verläufe ersparen.





