Ukraine-Krieg

Wird Wladimir Putin noch aggressiver? Das hängt von Russlands Elite ab!

Annalena Baerbock übte Kritik an den Drohungen des Kreml, dass ein atomarer Weltkrieg möglich sei. Doch wie groß ist die Gefahr wirklich?

Wladimir Putin, links, Verteidigungsminister Sergei Shoigu, Mitte, und Marineadmiral Nikolai Yevmenov.
Wladimir Putin, links, Verteidigungsminister Sergei Shoigu, Mitte, und Marineadmiral Nikolai Yevmenov.AP/Mikhail Klimentyev

Am Montag, den 1. August, begann bei den Vereinten Nationen in New York die mehrwöchige zehnte Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. In seinem Eröffnungsstatement warnte UNO-Generalsekretär António Guterres, dass die Welt nur ein Missverständnis beziehungsweise eine Fehlkalkulation von der nuklearen Vernichtung entfernt sei.

Der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken und Deutschlands Bundesaußenministerin Annalena Baerbock übten scharfe Kritik an den seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine mehrfach geäußerten – kaum verhüllten – Drohungen mit dem potenziellen Einsatz von Atomwaffen vonseiten der russischen Führungsriege. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten die Atommächte Großbritannien, Frankreich sowie USA die Rhetorik des Kreml als unverantwortlich und gefährlich.

Der russische Staatschef Wladimir Putin fand hingegen scheinbar beschwichtigend-versöhnliche Worte und versicherte, dass Russland weder den Buchstaben noch den Geist des Atomwaffensperrvertrages zu verletzen gedenke. Da ein Atomkrieg keine Gewinner kenne, dürfe jener niemals entfesselt werden, so der Präsident der Russischen Föderation.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Russlands atomare Drohgebärden

Bei näherer Betrachtung ist die Aussage Wladimir Putins weder beschwichtigend-versöhnlich noch überraschend oder auch nur neu. Am 26. April 2022 betonte der Außenminister der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, die Unzulässigkeit eines Atomkrieges als eine prinzipielle Position Moskaus. Gleichzeitig mahnte Lawrow den Westen, dass der gute Wille Russlands klare Grenzen habe und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges keinesfalls unterschätzt werden dürfe. Mit dieser Aussage entfachte der russische Chefdiplomat erneut die Diskussion über die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges sowie den potenziellen Einsatz von Atomwaffen durch Russland.

Denn bereits an dem Wochenende vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine führte Russland eine Übung seiner strategischen Abschreckungstruppen durch. Am 27. Februar 2022 wies Wladimir Putin öffentlichkeitswirksam Verteidigungsminister Sergeij Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow an, die strategischen Abschreckungskräfte der russischen Streitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Damit gab Putin dem Westen gegenüber ein klares Signal der Entschlossenheit ab, bis zum Äußersten gehen zu wollen. Gleichzeitig aber sorgte dieser Befehl weltweit für Verwunderung. Denn der vom Präsidenten Russlands verwendete Begriff der sogenannten „besonderen Kampfbereitschaft“ wird weder von strategischen Abschreckungskräften noch irgendwo anders im russischen Militär genutzt.

Kremlpropaganda soll den Entscheidungsspielraum Wladimir Putins erweitern

Die politischen Diskussionssendungen im russischen Staatsfernsehen empfindet die Öffentlichkeit im Westen ähnlich beunruhigend. So erklärten über die vergangenen Monate zahlreiche russische Propagandisten, nichts Falsches im Einsatz taktischer Atomwaffen in oder auch außerhalb der Ukraine zu sehen. Naheliegenderweise sollten diese Aussagen in einem laufenden und zunehmend eskalierenden Konflikt nicht einfach ignoriert werden. Dennoch sind die Ankündigungen der russischen Staatspropaganda stets mit gewisser Vorsicht zu nehmen. Denn derartige Aussagen im Staatsfernsehen sind weder neu noch wirklich überraschend; zumal in der berüchtigten Sendung von Vladimir Solowjow. Bereits vor Jahren hat ein anderer umtriebiger russischer Moderator und Propagandist, Dmitri Kisseljow, damit gedroht, die USA in radioaktive Asche zu verwandeln.

Weder Solowjow noch Kisseljow noch andere Kremlpropagandisten werden über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden oder diesen auch nur annähernd beeinflussen können. Vielmehr handelt es sich um eine propagandistische Inszenierung. Diese Inszenierung dient sowohl innen- als auch außenpolitischen Zwecken. Innenpolitisch sollen die im Staatsfernsehen durch Expertengemeinschaft platzierten – mit dem Kreml im Vorfeld akkordierten und sich im engen Rahmen bewegenden – Forderungen den Entscheidungsspielraum für Wladimir Putin ganz erheblich erweitern, die Bevölkerung auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten und Putin letztlich jede Notwendigkeit zur Rechtfertigung abnehmen. Außenpolitisch sollen die westlichen Gesellschaften mit den Drohungen von der Unterstützung der Ukraine – um des „lieben Friedens willen“ – abgeschreckt werden.

Die roten Linien in Wladimir Putins Kopf

Die sogenannten roten Linien für den Atomwaffeneinsatz definiert Wladimir Putin und Wladimir Putin allein. Es war auch der Kremlchef, der mit seiner kaum verhohlenen Drohung, Atomwaffen in einem konventionellen Konflikt einzusetzen, gleich zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine eine faktische Ausweitung der offiziellen Nukleardoktrin Russlands herbeiführte. Zwar kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt des Präsidenten der Russischen Föderation keinesfalls sicher sein, so gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in einem heuristischen Spiel aus Versuch und Irrtum, jedoch dürfte das eigentliche Problem dabei darin bestehen, dass es keine klaren roten Linien mehr gibt.

Jede beliebige Handlung des Westens kann von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden. Insofern ist die Sorge, dass westliche Waffenlieferungen an die Ukraine für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten müssen und den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren könnten, ein wohlklingender Trugschluss.

Nun sag, wie hast du’s mit Atomwaffeneinsatz

Die eigentliche Gretchenfrage im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes durch Russland bleibt, ob die Elitengruppen rund um den Kremlchef eine nukleare Eskalation auch tatsächlich mitzutragen bereit sind. Das dürfte nicht der Fall sein. Die Einflussmöglichkeiten der Eliten auf die Entscheidungsfindung des russischen Präsidenten hängen aber nicht nur mit dem weiteren Kriegsverlauf, sondern vor allem mit der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands unmittelbar zusammen.

Wenn der internationale Sanktionsdruck aufrechterhalten wird und sich die wirtschaftliche Lage Russlands zuspitzt, wird Wladimir Putin mehr Unterstützer aus den Reihen der Eliten benötigen, um sein Machtsystem stabil zu halten. Und je mehr Unterstützer Putin in den Reihen der Eliten für eine Stabilisierung Russlands benötigt, umso unwahrscheinlicher wird ein Abdriften in eine personalistische Diktatur und letztlich auch der Einsatz der Atomwaffen.

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