Corona in Kliniken

Verfassungsgericht: Behinderte Menschen müssen geschützt werden

Aus Angst, auf überlasteten Intensivstationen abgewiesen zu werden, hatten neun Menschen mit Behinderung geklagt. Sie bekamen recht. Nun muss der Bund handeln.

Die Aufschrift „Notfall-Triage-Praxis“ steht auf einem Hinweisschild in einer Klinik. 
Die Aufschrift „Notfall-Triage-Praxis“ steht auf einem Hinweisschild in einer Klinik. dpa/Hauke-Christian Dittrich

Seit zwei Jahren sind wegen der Corona-Krise viele Kliniken überlastet, zahlreiche Operationen müssen verschoben werden. Und häufig müssen Ärzte und Pfleger entscheiden, wen sie als Patienten aufnehmen oder nicht, wenn die Intensivbetten knapp geworden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber nun einen klaren Auftrag gegeben, das „unverzüglich“ zu regeln, vor allem zugunsten behinderter Menschen. 

Neun Menschen mit schwerer und schwerster Behinderung waren dafür vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Sie befürchteten in der Corona-Pandemie eine Benachteiligung, weil bei bestimmten Behinderungen oder Vorerkrankungen die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung schlechter seien als im Durchschnitt. Die Kläger hatten bereits Mitte Mai 2020 Verfassungsbeschwerde eingereicht und forderten ein Gesetz, das sie schützt. Damit verbunden war auch ein Eilantrag, den die Richter allerdings abwiesen. Das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten, war damals ihr Argument.

Nun gaben ihnen die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe recht. Der Gesetzgeber, also der Staat, müsse sich auf eine solche Triage-Situation vorbereiten und dabei Vorkehrungen treffen, damit im Fall der Fälle Menschen mit Behinderungen geschützt sind. Als Triage wird in der Medizin eine Methode bezeichnet, nach der in Notlagen oder Pandemien ausgewählt wird, wer zuerst versorgt wird. Dabei kann zum Beispiel die Überlebenschance eine Rolle spielen. Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet.

Die Vorkehrungen sind, so urteilten die Richter, „unverzüglich“ zu treffen. Andernfalls bestehe das Risiko, dass Menschen bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Betten und Geräte wegen einer Behinderung benachteiligt würden, betonte das Bundesverfassungsgericht in dem veröffentlichten Beschluss (Az: 1 BvR 1541/20). Dass der Gesetzgeber dies bisher nicht getan habe, sei verfassungswidrig, so die Richter. Sie verweisen dabei unter anderem auf Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Danach dürfen Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden.

Zur Frage, wie eine Regelung aussehen könnte, machte das Gericht keine konkreten Vorgaben. Der Gesetzgeber habe hier einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Er müsse allerdings berücksichtigen, dass sich bei sogenannten Triage-Entscheidungen die Mediziner in einer Extremsituation befinden und schnell entscheiden müssen, wer behandelt wird und wer nicht. 

Das Urteil fand am Dienstag positives Echo. Der kommissarische Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, sagte: „Für Menschen mit Behinderung ist sie ein sehr wichtiges Signal.“ Der Sozialverband VdK betonte, das Gericht habe die Politik zu sofortigem Handeln aufgefordert. Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, sagte dem RND: „Der Bundestag darf sich jetzt nicht mehr wegducken. Er steht jetzt in der Verantwortung, Kriterien für die Triage festzulegen. Schließlich geht es bei der Entscheidung um Weiterleben oder Sterben.“

In der Berliner Charité gab es bislang keinen Triage-Notfall

Der Bund will sich laut Justizminister Marco Buschmann zügig um die Umsetzung kümmern. Er twitterte: „Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt. Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten.“ Die Bundesregierung werde dazu zügig einen Gesetzentwurf vorlegen. Dagmar Schmidt, Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, unterstrich: „Gerade diejenigen, die von der Pandemie besonders eingeschränkt sind, brauchen unseren Schutz – den Schutz ihrer Gesundheit aber auch den Schutz ihrer sozialen Teilhabe in Zeiten der Pandemie.“

In der Berliner Charité reagierte man eher verhalten. Vorstandsvorsitzender Heyo Kroemer sagte, dass zumindest Deutschlands größtes Universitätsklinikum noch nicht in die Lage gekommen sei, andere Patienten nicht behandeln zu können. Er sagte: „Wir in der Charité verwenden den Begriff Triage gar nicht, weil wir weit von so einer Lage entfernt sind.“ Dass es nach dem Urteil nicht darum gehe, dass sich die Politik unmittelbar in Medizin-interne Abläufe einmische, betonte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), die am Dienstag die Charité besuchte. Für Berlin sei sie erleichtert, dass die Triage in der Charité keine Rolle spiele, sagte sie.