Berlin-Diskussionen um Triage-Situationen in der Intensivmedizin haben vor allem unter Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankung die Furcht wachsen lassen, in Krankenhäusern im Nachteil zu sein, sagt Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Verbands Der Paritätische Berlin. In der Corona-Krise habe man sie als Appendix behandelt, „weil Menschen mit Behinderung die Letzten sind in der Kette“. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ermögliche einen Handlungsspielraum – für Prävention, damit es gar nicht erst zu einer Triage komme.
Frau Schlimper, wieso ist die Urteilsverkündung so wichtig für Menschen mit Behinderung?
Es schützt sie im Falle einer Triage davor, dass ihre Behinderung so eingeschätzt wird, dass eine geringere Überlebenschance festgestellt wird und sie aussortiert werden – weil, überspitzt formuliert, sich eine intensivmedizinische Behandlung für sie nicht mehr lohnen würde. Die Triage-Diskussion wird seit der Pandemie geführt und sie ist gerade für Menschen mit chronischen Erkrankungen und Menschen mit Behinderungen sehr beängstigend. Insofern ist das ein sehr wichtiges Urteil, dass sie in dieser Hinsicht deutlich abgesichert sind. Vorher befanden sie sich in einer zutiefst unsicheren Situation.
Menschen mit chronischen Erkrankungen sind in der Urteilsverkündung mit eingeschlossen?
Ja, das Bundesverfassungsgericht hat keine Unterscheidung gemacht.

In der Corona-Krise wurde immer wieder beklagt, dass Menschen mit Behinderung vergessen werden. Haben Sie über die Monate hinweg eine Verbesserung, vielleicht auch einen Lerneffekt beobachten können?
Unser Ansatz ist: Prävention. Alles tun, damit Menschen mit Behinderung gar nicht erst in ein Triage-System reinkommen. Und das ist ein Thema, was uns in Berlin zu Beginn der Corona-Krise hochgradig geärgert hat. Es war extrem aufwendig und schwierig, Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel zu erhalten. Menschen in betreuten Wohnformen und die Mitarbeitenden dort waren vielfach auf sich alleine gestellt. Wir hatten das Glück, dass es viele Initiativen in der Stadt gab, die ehrenamtlich für uns Masken genäht haben. Wir haben Spenden bekommen, zum Beispiel von der Technischen Universität Berlin OP-Handschuhe. Das war die erste Hürde, mit der wir zu kämpfen hatten.
Und was war die zweite Hürde?
Die Impfstoffe. Natürlich müssen Menschen in hochvulnerablen Gruppen zuerst geimpft werden. Gerade am Anfang waren damit Menschen in Pflegeeinrichtungen gemeint – aber eben auch Menschen mit Behinderung. Und auch da gab es ein Hin und Her. Immer wenn es eng wurde, wurden zuerst die Impfaktionen für Menschen mit Behinderung abgebrochen. Das letzte Mal ist das vor nicht allzu langer Zeit geschehen, erst vor einigen Wochen, als es darum ging, Auffrischimpfungen mit mobilen Impfteams zu organisieren – denn Menschen mit Behinderungen können nicht einfach so in die Impfzentren fahren. Von einem Tag auf den anderen wurde durch die Gesundheitsverwaltung verkündet, dass Kinder in den Schulen geimpft werden müssten und deshalb mobile Impfteams nicht zur Verfügung stehen.
Konnten die geplanten Impfungen also nicht mehr stattfinden?
Wir haben dann gemeinsam mit der Sozialverwaltung eine Lösung gefunden. Sie haben für uns Impfstoffe und Impfteams organisiert, damit Menschen mit Behinderung auch ihre notwendige Booster-Impfung kriegen. Deswegen ist dieses Urteil, auch wenn es sich um die Triage-Situation handelt, für uns so außerordentlich wichtig, weil wir etwas in der Hand haben, um am sogenannten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anzusetzen. Der Gesetzgeber muss im Vorfeld unglaublich viel tun, damit es gar nicht erst zu einer solchen Situation kommt und wir nicht als Sozialverbände immer wieder hinterherrennen müssen, weil Menschen mit Behinderung die Letzten sind in der Kette. In Krisen werden die Schwächsten der Gesellschaft zuerst vernachlässigt.
„Survival of the fittest“, so hatte es eine der Klägerinnen, die Behindertenaktivistin Nancy Poser sarkastisch formuliert.
Menschen mit Behinderungen wurden bisher in der Pandemie – so zumindest unsere Erfahrung – vielfach aus schon geplanten Aktionen wieder rausgenommen, insbesondere bei der Impfung. Und immer haben wir das durch den Einsatz engagierter Mitarbeitender vermeiden können. Es bedurfte eines permanenten Drucks der Sozialverbände, um Menschen mit Behinderungen hinreichend zu versorgen. Und deswegen bin ich auch ganz persönlich sehr, sehr froh, dass es jetzt dieses Urteil für den Extremfall gibt, der uns hoffentlich Handlungsspielräume im Vorfeld ermöglichen wird.
Was erwarten Sie als Allererstes von der Politik?

