Kommentar zur Triage

Katastrophenfilm in Zeitraffer: Wer darf leben – eine Systemfrage?

Eine Triage abzuwenden, sollte Konsens sein in Deutschland. Politik und Gesellschaft haben diese Aufgabe lange ignoriert. Nun soll ein Gesetz Schwache schützen.

Ein Schild an einer Kliniktür weist auf Triage hin, die Priorisierung bei der Behandlung von Patienten.
Ein Schild an einer Kliniktür weist auf Triage hin, die Priorisierung bei der Behandlung von Patienten.dpa/Dittrich

Berlin - Triage, ein furchtbares Wort, weil sich etwas Furchterregendes dahinter verbirgt. Geprägt im Krieg, in Lazaretten von Feldärzten praktiziert, bezeichnet es eine Entscheidung über Leben und Tod, erzwungen durch eine medizinische Unterversorgung, knappe Ressourcen an Personal und Material. Mediziner müssen entscheiden, wen sie zuerst behandeln, wen später, wen womöglich gar nicht. Wenn schon nicht alle, so sollen möglichst viele Menschen gerettet werden, das ist das Prinzip. Vor diesem Hintergrund hat jetzt das Bundesverfassungsgericht die Politik aufgefordert, Behinderte und chronisch Kranke per Gesetz unter besonderen Schutz zu stellen, sollte das Gesundheitssystem durch die Corona-Pandemie derart stark belastet sein, dass eine Triage erforderlich wird.

Es wird in Kürze also einen zusätzlichen Handlungsrahmen geben für Ärzte, insbesondere für Intensivmediziner. Risiken abwägen müssen Krankenhäuser schon jetzt in der vierten Infektionswelle. Weil Betten fehlen und Pflegekräfte, die sich um die Patienten darin kümmern, werden Operationen vertagt, Therapien ausgesetzt, in der Onkologie etwa, mit teils gravierenden Folgen. Eine Metastudie vom November 2020 belegt, dass die Verschiebung einer Behandlung um vier Wochen die Heilungschancen bereits erheblich verringern; je nach Krebsart um sechs bis dreizehn Prozent. EU-Kommission und OECD veröffentlichten unlängst Schätzungen, nach denen in Europa bis zu eine Million Fälle von Krebs in der Pandemie unentdeckt blieben, weil die Gesundheitssysteme überlastet sind.

Triage – ein furchtbares Szenario. Es mit aller Kraft zu vermeiden, sollte Konsens sein in einer Gesellschaft, deren Organisation einmal nach dem Solidarprinzip konstruiert wurde: Bürger tragen nicht allein für sich die Verantwortung, eine Gemeinschaft unterstützt sie bei Bedarf, unabhängig vom Impfstatus der Betroffenen, ungeachtet einer möglichen Nikotinabhängigkeit, einer Neigung zu Alkoholmissbrauch oder Extremsport, egal welches Risiko sie eingegangen sind. Ein solches System braucht allerdings Ressourcen, die einer Krise standhalten. Die Bereitschaft, sie vorzuhalten, tendierte in der Politik bislang gegen null, ebenso die Bereitschaft der Öffentlichkeit, etwas gegen diese Haltung zu unternehmen.

Anders jedenfalls lässt es sich nicht erklären, dass Warnungen vor einer pandemischen Notlage ungehört blieben: Bereits 2013 hatten Wissenschaftler im Auftrag des Robert-Koch-Instituts das Szenario einer solchen Krise entworfen. Modi-Sars hatten sie den Erreger genannt. Die Simulation basierte auf Erfahrungen mit Influenza, HIV, Sars-CoV und der Vogelgrippe H5N. Sie ging von 7,5 Millionen Toten aus. Sie zeichnete das Bild eines völlig überforderten Gesundheitssystems, starker wirtschaftlicher Schäden durch Maßnahmen, die das Virus stoppen sollen. Die Bevölkerung: verunsichert und gespalten.

Sieben Jahre später wurde die fiktive Versuchsanordnung bittere Realität, wenn auch zum Glück die Sterblichkeit bei Sars-Cov-2 nicht annähernd so hoch zu werden droht, wie bei Modi-Sars angenommen. Sonst jedoch trat die Vorhersage haargenau ein. Es bewahrheitete sich, dass Politik, Wirtschaft, Medizin und Gesellschaft beim Kampf gegen die Krise nur eingeschränkt handlungsfähig sind – weil das Szenario von 2013 keine Konsequenzen nach sich zog.

Eine Art Ur-Triage fand damals statt, Risiken wurden abgewogen, keine medizinischen allerdings, sondern ökonomische. Der finanzielle Aufwand, sich für eine Pandemie in dem Ausmaß der Prognose zu wappnen, stand gegen den Drang zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Für die nötigen Investitionen in Krankenhäuser wollten die zuständigen Bundesländer nicht aufkommen. Die Krankenhäuser wiederum sparten an Pflegekräften, Personal stieg wegen Unterbesetzung aus dem Beruf aus. Ein Übriges tat die zunehmende Privatisierung kommunaler und freigemeinnütziger Kliniken.

Diese Erkenntnisse setzten sich jetzt erst in der Öffentlichkeit durch. Dass es dazu einer Eskalation auf den Intensivstationen und einer allgemein um sich greifenden Panik bedurfte, lässt befürchten, dass nach der Krise weitergemacht wird wie davor. Bis zur nächsten Pandemie, zur nächsten Panik, stets kostenoptimiert und gewinnorientiert.

Das System lernt nur langsam, weil die Rechnung, die ihm zugrunde liegt, lange Zeit aufging. Das zeigt sich in der globalen Klimakrise. Die Coronakrise ist dagegen ein Katastrophenfilm in Zeitraffer. Er ist sehr lehrreich, weil er schnell erkennen lässt, wer vor allem am Ende zahlt: Es sind die Schwachen. Auch diejenigen, die das Bundesverfassungsgericht jetzt geschützt sehen will.