Ruslan Bondarenko, 33, lebte bis vor einem Monat in der ukrainischen Kleinstadt Butscha, die jetzt in internationale Schlagzeilen geriet. Am Wochenende gab es schockierende Bilder hingerichteter ukrainischer Zivilisten aus der weitgehend zerstörten Stadt. Der russischen Regierung werden jetzt Kriegsverbrechen vorgeworfen. Aus Kiew erzählte Bondarenko der Berliner Zeitung in russischer Sprache, was er von Bekannten in seiner Heimat erfahren hat, wie es seiner inzwischen in Deutschland lebenden Familie geht und was er sich für die Zukunft erhofft. Der Kontakt zu Bondarenko kam über Bekannte aus Kiew zustande. Wir telefonierten mit ihm am Montagabend.
Herr Bondarenko, wie geht es Ihnen? Was haben Sie in den letzten Wochen in Butscha erlebt?
Ich bin seit mehreren Wochen in Kiew. Meine Familie und ich verließen Butscha am 9. März, als die Situation anfing, sich zu verschärfen. Am 12. März wurde die Stadt von den russischen Truppen komplett eingenommen. Butscha liegt direkt neben dem Flughafen Hostomel. Sofort am ersten Tag des Krieges fingen die Russen an, ihn zu bombardieren. Ich erinnere mich noch an den 24. Februar – es war 12 Uhr, ich ging spazieren mit meinen zwei Söhnen, vier Jahre und zehn Monate alt. Es war ein trüber Tag, ich konnte die Kampfjets nicht sehen, aber ich konnte hören, wie sie Richtung Hostomel flogen. Die erste Nacht verbrachten wir im Keller unseres Hauses. In unserer Wohnung war es furchtbar. Wir wohnen in einem zehnstöckigen Haus, auf der fünften Etage. Genau auf dieser Höhe flogen die Kampfjets ein. Es war schrecklich. Innerhalb weniger Stunden fiel das Licht aus, dann das Wasser, dann die Heizung, am zweiten Tag des Krieges auch das Gas. Unsere Nachbarn haben dann eine Feldküche an unserem Hauseingang eingerichtet. Als Brennholz nahmen sie Regale aus den Läden, die die Russen bereits geplündert hatten.
Wie würden Sie das Leben in Butscha vor dem Krieg beschreiben?
Das ist eine sehr kleine Stadt, nur 20 Kilometer entfernt von Kiew. Das hat sie attraktiv für junge Familien gemacht, es gab bei uns viele kleine Kinder. Zu jeder Zeit des Tages, egal ob am Morgen oder Abend, und egal wo in der Stadt, diese Kinder waren immer zu sehen und zu hören. Alles war sehr komfortabel gebaut, die Läden waren alle sehr nah – Butscha hat sich zu einem Teilgebiet von Kiew entwickelt.
Wie schnell nach dem 24. Februar begannen die Menschen, die Stadt zu verlassen?
Das fing langsam an. Wir haben aus dem Fenster gesehen, wie alle, die die Möglichkeit hatten, sich für die Flucht bereit machten. Die Leute, die nicht fliehen konnten, versteckten sich in ihren Kellern, sie saßen in ihren Wohnungen und warteten auf Rettung. Aber die Russen haben die Stadt so schnell okkupiert, dass es schwierig wurde, sich durch die Stadt zu bewegen. Die Leute hatten Angst, sie trauten sich nicht, ihren eigenen Hof zu verlassen. Am 5. und 6. März wurde dann eine Evakuierung der Stadt versucht. Angeblich gab es Vereinbarungen mit den russischen Streitkräften über einen humanitären Korridor. Wir trugen auch alle weiße Armbänder, um zu zeigen, dass wir Zivilisten sind. Aber die russischen Soldaten haben trotzdem die Überreste der Brücke beschossen, als die Leute fliehen wollten. Ich habe gehört, dass dabei mindestens zwei Menschen getötet wurden.
Wie ist die Situation in Kiew für Sie jetzt?
Ich bin zusammen mit meinem Schwager hier. Meine Frau ist zusammen mit den Kindern und meiner Mutter nach Deutschland geflüchtet. Die ersten Tage waren ruhig, aber dann fingen auch hier schwere Explosionen an. Dann entschied meine Frau, sie könnten nicht bleiben. Jetzt wird sie von einer deutschen Familie beherbergt. Es geht ihnen gut, und das freut mich sehr. Jetzt gibt es keine russischen Truppen mehr in der ganzen Kiewer Region, das Leben fühlt sich langsam wieder normal an. Die kleinen Läden, Bäckereien, Friseursalons öffnen wieder. Jetzt bin ich auf der Suche nach einer Arbeit. Vor dem Krieg arbeitete ich bei einer Kreditfirma, aber wegen des Kriegs hat sie aktuell keine Einnahmen.
Die ganze Welt wurde in den letzten Tagen von den grauenhaften Bildern hingerichteter Zivilisten in Butscha geschockt. Jetzt redet man von Kriegsverbrechen, einem Massaker durch russische Soldaten.
Soweit ich weiß, begannen die russischen Soldaten ungefähr ab Mitte März, die Stadt immer weiter zu besetzen. Das war, als die meisten Menschen bereits geflohen waren. Dann begannen sie, Checkpoints einzurichten. Leute, die noch auf die Straße gingen, wurden streng verhört. Wenn die Soldaten eine Person nicht mochten, konnten sie sie sofort töten. Wir haben auch alle die Bilder der Menschen gesehen, die mit gefesselten Händen getötet wurden. Ich habe gehört, dass sie sofort alle Männer rausgesucht haben, die noch in der Stadt waren. Auf den Fotos sieht es so aus, als hätten sie diesen Menschen dann einfach in den Hinterkopf geschossen und sie auf der Straße liegen gelassen.

Hätten Sie so etwas jemals erwartet?
Nein. Ich habe von Bekannten in Butscha gehört, dass die russischen Besatzer von Haus zu Haus gingen und Wohnungen plünderten. Ich habe Bilder gesehen, wie Panzer und Kampffahrzeuge im Hof eines Wohnkomplexes direkt neben dem meiner Familie geparkt wurden. Die Soldaten nahmen einfach alles aus den Wohnungen mit. Unsere Fernseher, Mixer, sogar Damenunterwäsche. Wir hatten auch ein großes Einkaufszentrum, das in die Luft gesprengt worden ist. Natürlich möchte ich zurück, um zu sehen, ob in unserer Wohnung noch alles in Ordnung ist. Viele Leute in Butscha haben ihre Wohnungen mit ihrem letzten gesparten Geld gekauft. Sehr viele wollen deshalb zurück. Ich hoffe sehr, dass all unsere Nachbarn, die ich in der Stadt oder in meinem Garten so oft gesehen habe, noch am Leben sind.
Trotz der Fotos kann ich auch heute nicht glauben, dass dies in der Stadt passiert ist, in der ich gelebt habe.
Können Ihre Bekannten vor Ort einschätzen, wie viele Menschen in Butscha getötet worden und wie viele noch am Leben sind?
In Friedenszeiten gab es in unserer Stadt etwa 50.000 Einwohner. Diejenigen, die konnten, sind gegangen. Nach meinen Berechnungen sind bestenfalls zwischen 2000 und 3000 Menschen geblieben. Unter diesen Leuten gibt es einige Alte, die sich nicht mehr richtig fortbewegen können. Aber hauptsächlich sind das Leute, die nicht rechtzeitig fliehen konnten.
Präsident Selenskyj war gerade zu Besuch in Butscha. Er warnte, dass in anderen Gebieten, die Russland besetzt hat, die Dinge „noch schlimmer“ sein könnten. Teilen Sie seine Angst?
Ich denke auf jeden Fall, dass die aktuellen Aktionen der russischen Armee sehr abnormal sind. Was jetzt stattfindet, haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen. Ja, es hat andere Kriege gegeben, aber sie waren nicht so brutal wie dieser. Die Stadt Wolnowacha in der Region Donezk ist wie vom Erdbeben verschluckt. 90 Prozent von Mariupol sind zerstört. Einige Verwandte von mir wohnen dort noch, Gott sei Dank, sie haben sich in den letzten Tagen wieder gemeldet. Seit dem 2. März hatte ich nichts mehr von ihnen gehört. Auch Charkiw wurde sehr hart getroffen. Das sind Städte, die praktisch komplett neu aufgebaut werden müssen. Russland erklärte ja zu Beginn des Krieges, dass es sich um eine friedenserhaltende Operation handele. Aber wie man überall in der Ukraine sieht, war das eine Lüge: Die russischen Truppen schießen auch auf Häuser, Schulen, Fabriken und Krankenhäuser. Ihnen ist es egal, ob sie auf einfache Zivilisten, Kinder oder Frauen schießen. Das zeigen die Bilder aus Butscha ganz klar.
Haben Sie erwartet, dass Russland so extrem handeln würde?
Nein, so ein Szenario habe ich nicht erwartet. Russland hatte bereits lange vor dem Februar damit begonnen, seine Truppen rund um unser Land zu versammeln. Aber bis zum letzten Moment glaubte ich nicht, dass Russland die Ukraine wirklich angreifen würde. Ich dachte, sie wollten einen weiteren Teil der Ukraine erobern, um sich den Weg zur Krim durchs ukrainische Festland zu bahnen. Aber meine Bekannten und ich hätten nie damit gerechnet, dass es einen solchen Angriff geben würde. Wir gingen davon aus, ein russischer Angriff würde eher der Einschüchterung der ukrainischen Regierung dienen.
Haben Sie unter den Bildern der letzten Tage Orte in Butscha wiedererkannt?
Ja, natürlich. Der erste russische Konvoi wurde in der Woksalnaja-Straße aufgelöst. Ich bin früher sehr oft diese Straße entlanggegangen. Es gab dort einen Kindergarten, den mein ältester Sohn eineinhalb Jahre lang besucht hat. Nachdem der Konvoi in dieser Straße zerschlagen worden war, verwandelte sich die ganze Straße in einen Friedhof für russische Ausrüstung. Die Privathäuser, die auf beiden Seiten dieser Straße standen, wurden stark beschädigt. Trotz der Fotos kann ich auch heute nicht glauben, dass dies in der Stadt passiert ist, in der ich gelebt habe, in der Stadt, in der es so viel Kinderlachen und glückliche Familien gab. Kürzlich sah ich ein Bild von einem Spielplatz, 20 Meter von unserem Haus entfernt. Dort sind jetzt drei Menschen begraben. Es gab keinen anderen Platz zum Begraben, also sind jetzt direkt auf dem Spielplatz Kreuze mit den Namen der Begrabenen aufgestellt worden. Wie erklärt man das einem Kind, das nicht weiß, wann es wiederkommen kann? Dass Menschen hier auf dem Spielplatz begraben sind?

Wie blicken Sie jetzt auf die Zukunft?
Viele glauben, dass Russland den Krieg zum 9. Mai beenden will. Dann feiern sie das Ende des Zweiten Weltkriegs, ihres Großen Vaterländischen Krieges – das ist für sie der Tag, an dem auf der ganzen Welt absoluter Frieden herrscht. Sie veranstalten eine Parade in Moskau und zeigen ihre Ausrüstung und ihr ganzes militärisches Personal. Der Konflikt im Donbass läuft bereits seit dem Jahr 2014 und hat Moskau nie einen großen Erfolg gebracht: Die Menschen im Donbass leben immer noch in Armut, ab und zu kommt es zu Schüssen. Mit diesem Krieg will Putin endlich einen Goldesel für Russland schaffen. Wir hoffen alle, dass der Krieg bald zu Ende ist. Dass die Menschen, die nach Europa gegangen sind, zurückkehren können und dass die Kinder endlich ihre Väter wiedersehen.
Wie geht es Ihrer Familie?
Ich vermisse meine Kinder sehr. Wenn ich mit meiner Frau telefoniere, erzählt mir mein vierjähriger Sohn Matvei, wie sehr er mit seinen Freunden spielen möchte, wie sehr er will, dass ich ihm eine Geschichte vorlese. Er sagt, dass er mich vermisst. Mein zweiter Sohn, Bohdan, der erst zehn Monate alt ist, spricht noch nicht, aber man kann an seiner Stimme hören, dass auch er mich sehr vermisst. Sie verstehen nicht, warum Papa jetzt nicht bei ihnen ist, warum sie in einer anderen Familie sind, warum da andere Leute herumlaufen, warum die in einer anderen Sprache sprechen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was meinen Kindern jetzt durch den Kopf geht.
Sie kennen die schrecklichen Bilder ermordeter Zivilisten in Butscha, da sind auch getötete Kinder zu sehen. Was macht das mit Ihnen als Vater?
Wenn ich sehe, dass noch mehr Kinder getötet wurden, sinkt mein Herz. In vielen ukrainischen Städten sind unschuldige Kinder getötet worden. Ich bin mir sicher, dass die russischen Invasoren, die jetzt auf unserem Territorium kämpfen, auch Kinder haben. Und diesen Kindern wird nicht gesagt, wohin ihre Väter gegangen sind, um andere Kinder zu töten. Es ist für mich unverständlich, wie ein erwachsener Mann, ein solcher Drecksack, eine Waffe auf ein Kind richten und es töten kann. Kinder sind unsere Zukunft. Ein Land bringt Kinder zur Welt, damit es gedeihen kann. Alle Eltern sind bereit, für ihre Kinder zu sterben. Und hier kommen Männer aus einem anderen Land und bringen unsere Kinder um. Es ist einfach unbeschreiblich.
Sehen Sie das Massaker von Butscha als Wendepunkt für die Reaktion der Welt auf den Krieg in der Ukraine?
Die ganze Welt hat die Bilder aus Butscha gesehen. Es ist wichtig, dass die ganze Welt darüber entsetzt ist, dass es im 21. Jahrhundert einen Krieg mit solchen Folgen geben kann, wo doch alles auf diplomatischem Wege gelöst werden könnte. Ich habe den Eindruck, dass im Moment alle Länder mit Ausnahme von Russland um Butscha trauern. In den russischen Medien heißt es, das alles sei inszeniert worden. Sie behaupten, die ukrainischen Truppen hätten auf ihre eigenen Leute geschossen und Fotos gemacht, um Russland einen schweren Vorwurf zu machen. Die Russen hätten eigentlich niemanden getötet, sie seien friedliche Eroberer.

Was halten Sie von den bisherigen Reaktionen europäischer Länder und insbesondere Deutschlands auf den Krieg?
Es ist sehr schön, dass die meisten europäischen Länder die Ukraine unterstützen, und dass sie die Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, aufgenommen haben. Ich weiß aber auch, dass es leider noch einige europäische Länder gibt, die immer noch eine viel zu neutrale Position in Bezug auf Russland einnehmen. Aber die Tatsache, dass praktisch ganz Europa uns unterstützt, ist sehr gut. Wer jetzt die Ukraine nicht unterstützt und sie Russland überlässt, sollte wissen, dass der russische Diktator danach nicht aufhören wird. Er wird weiter nach Europa gehen, nach Polen, nach Deutschland. Dass die Nato da ist, wird ihn nicht einschüchtern. Es handelt sich um einen Mann, der in einem Bunker sitzt und vor nichts Angst hat.
Wann hoffen Sie, nach Butscha zurückzukönnen?
Es wird zumindest ein Jahr dauern, bevor man zur Normalität in Butscha zurückkehren kann. Wir sind jetzt fast komplett von Kiew abgeschnitten, unsere Straßen, unsere Brücken, unsere Eisenbahnstrecken sind zerstört und müssen repariert werden. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es diesen Wiederaufbau geben wird. Es wird wieder Frieden herrschen, es wird wieder möglich sein, mit unseren Kindern spazieren zu gehen, wieder Spaß zu haben, wieder miteinander ins Kino zu gehen. Ich glaube, die Zukunft wird besser sein. Alle Städte werden besser sein, sie werden umgebaut, und wir werden nie wieder Eindringlinge in unser Gebiet lassen. Wir werden besser leben als vor dem Krieg.


