Streit in der Koalition

Interessenverband über Ampel-Streit: „Lisa Paus ist eine Belastung für die Koalition“

Nach dem Koalitionszoff um die Kindergrundsicherung schlagen Verbände Alarm. Sie haben eigene Theorien zu dem Ampel-Theater. 

Steht in der Kritik: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne). 
Steht in der Kritik: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne). epd

Es hört nicht auf: Nach dem Streit auch innerhalb der Grünen darüber, dass  Bundesfamilienministerin Lisa Paus das Wachstumschancengesetz blockiert hat, gehen auch andere auf die Barrikaden. Der Vorwurf: Durch den Zoff bleibt die eigentlich doch als wichtig erachtete Kindergrundsicherung auf der Strecke. Paus habe überdies bislang nur eine Wundertüte präsentiert und nichts Konkretes. 

Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, sagte der Berliner Zeitung: „Es ist ein Armutszeugnis, dass es überhaupt zu den Debatten um die Kindergrundsicherung gekommen ist.“ Es sei schon erstaunlich, „welchen hohen Stellenwert die Geldfrage einnimmt, anstatt die sozialen Probleme zu thematisieren. Drei Millionen Kinder, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind, sollten für sich sprechen.“

Verena Bentele befürchtet, dass das Projekt Kindergrundsicherung auf der Strecke bleibt. „Wir kritisieren schon seit langem, dass sich die Koalition bei der Kindergrundsicherung so uneins ist, obwohl sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben war. Dort standen viele gute Punkte drin, etwa die Neuberechnung des Existenzminimums von Kindern.“ Die Koalition sei allerdings nach derzeitigem Stand von ihrem eigenen Vertrag abgerückt. „Das ist sehr bitter.“

Seit Donnerstag steht das Projekt noch mehr in den Sternen, vor allem die Umsetzung. Vorausgegangen war die Blockade des Wirtschaftschancengesetzes von Bundesfamilienministerin Lisa Paus, ein Lieblingsprojekt der FDP.  Anlass war für die einstige Berliner Landespolitikerin, dass sie mehr Geld für die Kindergrundsicherung aus dem Etat erhalten wollte. Derzeit sind nur zwei Milliarden geparkt, sie aber möchte bis zu sieben Milliarden für ihr „Herzensprojekt“, wie sie es nennt.

Paus, die von Umweltministerin Steffi Lemke unterstützt wurde, hat mit ihrem Einspruch auch verbrannte Erde hinterlassen. Sie fiel mit ihrer Protestaktion vor allem Wirtschaftsminister Robert Habeck in den Rücken, der gerade im Urlaub ist. Habeck ist Befürworter des Wirtschaftschancengesetzes, macht sich aber gleichzeitig auch für die Kindergrundsicherung stark.

Grüne: Lisa Paus fällt Robert Habeck in den Rücken

Dass nun das eine gegen das andere ausgespielt wird, dürfte ihm nicht gefallen. Denn eigentlich schließen sich beide Vorhaben, mehr Unterstützung für Unternehmen sowie ein stärkerer Kampf gegen Kinderarmut, nicht aus. Es war das Vorgehen der Familienministerin, das viele – auch in den eigenen Reihen – verärgerte. Und dass sie es ohne das Okay von Habeck getan habe, heißt es aus Grünen-Kreisen. 

Kritiker bemängeln zudem, dass die Grünen-Ministerin jetzt erst einen Entwurf eingereicht hat. Vorher hatte sie einen blauen Brief vom Bundeskanzler erhalten, der sie drängte, endlich mal ein Konzept fertigzustellen.

Kindergrundsicherung soll alle sozialen Leistungen bündeln

Inzwischen hat Paus ein Konzept eingereicht, trotzdem sind zahlreiche Punkte bei der Kindergrundsicherung noch unklar. Ziel ist es, bis 2025  alle sozialen Leistungen zu bündeln. Derzeit geht man von einem Grundstock für alle Kinder von 250 Euro aus, weitere Zusatzhilfen sollen je nach Einkommenslage der Eltern dazukommen. Wie hoch die Summen sind, darüber ist bislang nicht entschieden worden. Auch ob die von Paus eingeforderten sieben Milliarden Euro reichen, bezweifeln vor allem Sozialverbände. 

VdK-Präsidentin Bentele sagte zur Berliner Zeitung: „Es wären weit mehr als 20 Milliarden Euro nötig, wenn man von einer ausreichenden Höhe der Kindergrundsicherung und einer 100-prozentigen Inanspruchnahmequote ausgeht.“

Vom eigentlichen Ziel einer guten Kindergrundsicherung scheint nicht mehr viel übrig zu bleiben.

VdK-Präsidentin Verena Bentele über den Krach in der Koalition

Im Moment hat der Verband allerdings die Befürchtung, „dass der Kindergrundsicherung eine so starke Geldschranke vorgeschoben wird, dass die Kinderarmut nicht ausreichend bekämpft werden kann“. Es sehe im Moment so aus, als würde aus der Reform nur ein „Reförmchen“, sagte Bentele und fügte hinzu: „Vom eigentlichen Ziel einer guten Kindergrundsicherung scheint nicht mehr viel übrig zu bleiben.“ Aber gerade das Sparen bei der Kindergrundsicherung sei „unverantwortlich, unsozial und widerspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen“.

Das Ziel der Bekämpfung von Kinderarmut könne nur noch erreicht werden, wenn „eine Bündelung aller Leistungen, eine automatisierte Auszahlung und letztendlich mehr Geld für die Familien Ergebnis der Reform sind“. Doch der politische Wille, „wirklich etwas gegen Kinderarmut zu tun, scheint einigen zu fehlen“.

Vorurteile gegenüber Eltern würden wirkungsvollen Maßnahmen gegen Kinderarmut im Weg stehen, erklärte die VdK-Präsidentin. „Eltern wird unterstellt, das Geld nur für sich auszugeben oder weniger arbeiten zu gehen. Es ist erstaunlich, was Eltern hier vorgeworfen wird – auch vonseiten einiger Regierungsvertreter.“

Diakonie: Kinderarmut belastet Staat finanziell noch mehr

Auch andere Sozialverbände zeigten sich enttäuscht. Die Diakonie Deutschland stellte am Freitag in Berlin eine Kurzexpertise vor, in der das Ausmaß der Kinderarmut in Deutschland dargelegt wird, inklusive der gesellschaftlichen Folgekosten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie kritisierte bei der Präsentation des Gutachtens: „In der Diskussion über die Kindergrundsicherung dürfen nicht nur die kurzfristigen Sparzwänge im Bundeshaushalt eine Rolle spielen. Wir müssen auch über die mittel- und langfristigen Belastungen für Staat und Steuerzahler sprechen, die sich zwangsläufig ergeben, wenn wir nicht frühzeitig in alle Kinder investieren.“

Frühzeitige Investitionen sichern soziale und ökonomische Chancen und ersparen dem Sozialstaat weitaus höhere Folgekosten.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie

Denn gesunde und gut ausgebildete Kinder hätten deutlich bessere Chancen, sich ein selbstständiges Leben mit höheren Einkommen und einer geringen Abhängigkeit von staatlichen Hilfen aufzubauen. Lilie: „Frühzeitige Investitionen sichern soziale und ökonomische Chancen und ersparen dem Sozialstaat weitaus höhere Folgekosten.“ Die Diakonie fordert seit vielen Jahren im breiten Bündnis eine existenzsichernde Kindergrundsicherung.

Die von Familienministerin Lisa Paus anfangs genannten zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung hält die Diakonie Deutschland ebenso wie der VdK für nicht ausreichend. Notwendig wären mindestens 20 Milliarden Euro. „Das ist ein Bruchteil der Summe, die Staat und Steuerzahler heute schon schultern müssen, wenn Kinderarmut nicht energischer bekämpft, sondern stattdessen lieber die enormen Folgekosten in Kauf genommen werden“, sagte Lilie.

Die gesamtgesellschaftlichen Kosten vergangener und aktueller Kinderarmut in Deutschland schätzt eine aktuelle OECD-Studie auf jährlich etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). „Wir sprechen hier also von einem zehnfachen Betrag von 110 bis 120 Milliarden Euro“, erklärte Lilie.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, drängt ebenfalls auf eine rasche Einführung der Kindergrundsicherung. „Studien zeigen, dass Armut oft von Generation zu Generation weitergegeben wird, diese Entwicklung gilt es zu durchbrechen.“

Er fügte hinzu: „Ein Schlüssel dazu liegt in der Kindergrundsicherung. Ein automatisiertes und digitales Verfahren bei der Auszahlung macht die Familien nicht länger zu Bittstellern und sorgt dafür, dass die Berechtigten alle Leistungen erhalten, die ihnen zustehen.“ Sinnvoll sei auch ein höherer Garantiebetrag zur Kindergrundsicherung – möglichst höher als das Kindergeld in Höhe von 250 Euro, fordert Fratzscher, „sodass jedes Kind unabhängig vom Einkommen der Eltern abgesichert ist.“ Hinzu kommen ein einkommensabhängiger Betrag und andere Leistungen für Bildung und Teilhabe, etwa für Klassenfahrten, Sportverein und Musikschule.

Kritik an Familienministerin Lisa Paus: Sie fordert nur

Kritik am Prozedere kommt auch vom Interessenverband Unterhalt und Familienrecht, allerdings richtet die sich auch gegen Lisa Paus. ISUV-Vorsitzende Melanie Ulbrich: „Das Unheil nahm im Januar 2023 seinen Lauf.“ Die Familienministerin habe „Eckpunkte der Kindergrundsicherung“ veröffentlicht, die jedoch mit den anderen betroffenen Ministerien – Finanzministerium, Sozialministerium und Justizministerium – noch nicht abgestimmt waren.

Die Verbandsvorsitzende sagte weiter: „Jedem kritischen Beobachter war damals schon klar, dass die Minister Buschmann, Heil und Lindner sich von der Familienministerin nicht so durch die politische Arena treiben lassen. Sie forderten immer wieder konkrete Angaben zur Kindergrundsicherung. Es kam nichts, vielmehr zog sie mit ihrem Lieblingsprojekt durch die Medien und inszenierte sich als Mutter Teresa.“

Das Problem sei: Paus fordere nur und kommuniziere nicht. „Wir wollten wissen, welche Auswirkungen die Kindergrundsicherung für Trennungseltern hat. Nie kam eine Antwort, kein Angebot zum Dialog. Für uns ist die Kindergrundsicherung eine Wundertüte, aus der jeder rausholen kann, was er möchte“, kritisiert die ISUV-Vorsitzende. Ihr Fazit:„ Familienministerin Paus hat sich verrannt und ist eine Belastung für die Koalition.“