Der Streit in der Ampel geht weiter – und es gibt viele Schuldzuweisungen. Nachdem Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) das Wachstumschancengesetz blockiert hat, wirft ihr die FDP Erpressung vor. Es ist nicht der erste Zwist um die Person Paus. Der Kanzler ermahnte sie in der Vergangenheit, und mit den Liberalen streitet sich die ehemalige Berliner Landespolitikerin schon länger.
Der Zankapfel ist die Kindergrundsicherung. Für Paus eines der größten Projekte in ihrer Amtszeit. Das sagte sie schon 2022 bei ihrer Vorstellung in Berlin. „Mir war Kinderarmut immer ein Riesen-Dorn im Auge.“ Sie brenne für soziale Gerechtigkeit.
Doch immer wieder gab es Probleme bei der Kindergrundsicherung. Anfangs fehlte das „detaillierte inhaltliche Konzept“, das sie zügig vorzulegen habe, wie Bundeskanzler Olaf Scholz höchstselbst in einem Brief an die Grünen-Ministerin bemängelte. Der von Scholz formulierte Arbeitsauftrag an die Ministerin: „Damit bis Ende August ein innerhalb der Bundesregierung geeinter Referentenentwurf vorliegt, sollte dieser entlang der vorliegenden Eckpunkte zügig von Ihrem Haus erarbeitet, bzw. um die noch fehlenden Regelungen ergänzt werden.“
Und das war noch nicht alles, denn Paus sollte „hinsichtlich der mit der Einführung der Kindergrundsicherung beabsichtigten Leistungsverbesserung“ unterschiedliche Möglichkeiten erarbeiten. Die Ministerin garantierte, dies alles bis zur diesjährigen Sommerpause zu liefern.
Kindergrundsicherung ist seit Monaten Streit in der Ampel
Sie streitet obendrein seit Monaten um die Finanzierung ihres Herzensprojekts, das die Sozialverbände seit langem als notwendig erachten. Allerdings sicherte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) der Kindergrundsicherung lediglich 2 Milliarden Euro zu. Paus selbst will bis zu 7 Milliarden. Der Sozialverband Deutschland (VdK) spricht von 23 Milliarden, die für die Umsetzung notwendig wären.
Das sind gewaltige Zahlen, und es ist die Spannweite, die für einige Ratlosigkeit sorgt. Sicher ist bisher nur: Die Kindergrundsicherung soll die bisherigen finanziellen Hilfsleistungen bündeln, wie etwa das Kindergeld, Kinderfreibeträge und den Kinderzuschlag sowie Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch. All diese Hilfszahlungen müssen im Moment bei unterschiedlichen Behörden beantragt werden – oft ist Familien gar nicht bewusst, dass sie einen Anspruch haben.
Der Grundbetrag soll mindestens so hoch sein wie aktuell das Kindergeld (derzeit 250 Euro). Der Zusatzbeitrag soll eine Pauschale für Bildung und Teilhabe (derzeit 15 Euro) und eine Kinderwohnkostenpauschale (derzeit 150 Euro) beinhalten. Der Zuschlag ist aber abhängig vom Einkommen der Eltern. Je höher das Einkommen, desto niedriger soll der Zusatzbeitrag sein. Ab einer bestimmten Einkommensobergrenze soll der Zusatzbeitrag bei null liegen. Wie hoch die Einkommensobergrenze sein wird, steht noch nicht fest. Wie so vieles andere auch.
Was verteilt werden soll, muss vorher erwirtschaftet werden. Traurig, dass diese Binsenweisheit nicht alle in der Bundesrgierung kennen! https://t.co/ckdTZws9WQ
— Gero Hocker (@GeroHocker) August 17, 2023
Und das bringt Lisa Paus derzeit in die Bredouille. Obwohl sie am Donnerstag trotzig ihre Blockade von Lindners Wachstumschancengesetz – und damit vorerst eine Entlastungsmaßnahme für die Wirtschaft – verteidigte und den Vorwurf der Erpressung zurückwies. Obwohl sie bei ihrem Manöver von Bundesumweltministerin Steffi Lemke (ebenfalls Grüne) unterstützt wird. Bei genauerem Hinsehen passt es durchaus in die gängige Rollenverteilung innerhalb einer Regierung. Aus Sicht der Familienministerin ist der Zusammenhang glasklar: Finanzminister Lindner verzichtet auf Geld von der Wirtschaft. Und genau dieses Geld würde Paus fehlen.
Dennoch stößt Lisa Paus bei ihrem Kampf gegen die FDP-gesteuerte Unternehmensbeglückung selbst in der eigenen Partei nicht auf einhellige Sympathie. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grünen) stellt sich zwar nicht öffentlich gegen Paus, aber auch er befürwortet das Wachstumschancengesetz.
So richtig positionieren möchte sich überhaupt niemand. Zwar verteidigte Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch die Blockade durch seine Parteikollegin. Immerhin sei beides wichtig – Wirtschaftsförderung, aber auch der Kampf gegen Kinderarmut. Ein aus Berlin stammender Bundestagsabgeordneter merkt dazu auf Anfrage der Berliner Zeitung an: „Na ja, etwas mehr Ruhe und Gelassenheit bei allen Beteiligten wäre den ja durchaus wichtigen Themen angemessen.“
Die #Grünen müssen sich sortieren, fordert der stellv. @fdp -Vorsitzende @johannesvogel und fordert @lisapaus auf, ein Konzept für die Kindergrundsicherung vorzulegen. Sie müsse erkennen, dass das Geld erst erwirtschaftet werden müsse, bevor es ausgegeben werden könne. @fdpbt pic.twitter.com/jXjQPpPlK1
— phoenix (@phoenix_de) August 17, 2023
Insgesamt sagen also eine Menge Grüne, es sei nicht gerade klug gewesen, dass Paus den sogenannten Leitungsvorbehalt, eine Art Stoppschild gegen das Wirtschaftschancengesetz, mit ihrer Mehr-Geld-Forderung für die Kindergrundsicherung verknüpft habe. Nur daran, dass es Paus sehr ernst sei mit dem Thema, daran zweifelt niemand. Bei den Berliner Grünen erinnern sich viele daran, dass die Politikerin das Thema seit mindestens anderthalb Jahrzehnten bearbeite.
Lisa Paus gehört zu den Linken innerhalb der Partei. In ihrem Berliner Landesverband gilt sie als „klassische Regierungs-Linke“, darüber hinaus als Feministin, Ökologin sowie versierte Sozial-, aber auch Wirtschaftspolitikerin. Während die ersten beiden Zuschreibungen sicherlich genuin grün sind, ist die Spezialisierung auf Soziales und Wirtschaft – vor allem in der Kombination – in der Partei sicher nicht selbstverständlich.
Lisa Paus ist auch Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrechtsexpertin
Ein wirtschaftliches Grundverständnis bringt Lisa Paus von zu Hause mit. Sie wurde in eine Familie hineingeboren, die im niedersächsischen Emsbüren ihr Geld mit der Produktion von Sondermaschinen und Fahrzeugen für den Berg- und Tunnelbau verdient. Ihre beiden älteren Brüder sind Geschäftsführer des vom Vater aufgebauten mittelständischen Unternehmens, die jüngere Schwester studierte Volkswirtschaftslehre und ging schließlich in die Politik. Seit 2009 sitzt sie im Bundestag.
Dort macht sie sich seit Jahren einen Namen als Wirtschafts-, Finanz- und Steuerrechtsexpertin. Da ist der Weg zur Sozial- und Familienpolitik näher, als viele womöglich glauben mögen, sagen ihre Berliner Parteifreunde. Schließlich benötigt auch die mittelständische Wirtschaft dringend Fachkräfte. Dafür müssten möglichst viele Kinder und Jugendlichen ihre Chancen entfalten können, so die Argumentation.
Bekämpfung der Kinderarmut ist wichtiger als Steuerentlastung für Unternehmen mit der Gießkanne. Da hat @lisapaus recht: Wenn @c_lindner nicht vor dieser Alternative stehen will, muss er die wachstumsfeindliche Schuldenbremse aussetzen.https://t.co/pgwpkCVXiG
— Jürgen Trittin (@JTrittin) August 16, 2023
Dennoch war der Weg der „Allrounderin, die im bundespolitischen Berlin sehr gut vernetzt ist“, wie sie in Berlin genannt wird, ins Bundeskabinett keine Selbstverständlichkeit. Lange Zeit seien Paus’ strategische Fähigkeiten unterschätzt worden, eben weil sie keine Lautsprecherin sei, sondern eine Pragmatikerin. Eine, die wisse, was Geplänkel sei, „und wann es ernst wird“. Und dennoch musste erst Anne Spiegel die Flutkatastrophe im Ahrtal so dilettantisch managen, damit der Weg frei wurde für Lisa Paus. Aber in dem Moment, so heißt es aus Berlin, „lag die Personalie aber auch auf der Hand“.




