In fünf Wochen, am 8. Oktober, wird in Bayern ein neues Landesparlament gewählt. Die CSU mit Markus Söder an der Spitze liegt den Umfragen nach vorn. Die Freien Wähler, Noch-Koalitionspartner der CSU, kämpfen mit den Grünen und der AfD um den zweiten Platz.
Mitten in den Wahlkampf platzt nun ein Skandal um den Regierungs-Vize Hubert Aiwanger, von Parteifreunden Hubsi genannt. Der Chef der Freien Wähler gerät wegen eines vor 35 Jahren in der Schulzeit verfassten antisemitischen Flugblatts in Erklärungsnot. Obwohl es angeblich Aiwangers Bruder verfasst hat, verlangt SPD-Chefin Esken die Entlassung des Politikers. Auch SPD-Chef Lars Klingbeil forderte CSU-Chef Markus Söder am Sonntag zum Handeln auf. „Was sitzen da eigentlich für Leute in der bayerischen Landesregierung?“, fragte Klingbeil auf einem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen SPD in Münster. „Solche Leute gehören nicht in Verantwortung in diesem Land.“ Söder dürfe dazu nicht schweigen, so Klingbeil.
Und auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordert Konsequenzen. Aiwanger ist dem SPD-Politiker schon lange ein Dorn im Auge. Der Freie-Wähler-Chef hatte sich in der Pandemie wenigstens eine Zeit lang als Impfgegner geoutet.
Aiwanger selbst wies am Wochenende empört zurück, Verfasser des Flugblatts zu sein. Über einen Sprecher ließ er in einer schriftlichen Erklärung mitteilen: „Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend. Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären.“
Wenig später nahm der Bruder Aiwangers Helmut alles auf seine Kappe. In einem Schreiben von Bruder Helmut Aiwanger, das die Freien Wähler verbreiteten, heißt es: „Ich distanziere mich in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt und bedauere sehr die Folgen dieses Tuns. Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war. Ich war damals noch minderjährig.“
Aiwanger selbst ging am Sonntag zur Tagesordnung über, kündigte an, wieder an Wahlkampfterminen teilzunehmen. Er wurde in Ansbach und Weihenzell in Mittelfranken erwartet, CSU-Chef Söder in Aufhausen bei Regensburg und in Bamberg. Aiwanger war am Samstag, als die Vorwürfe gegen ihn im Raum standen, nicht zu einem Volksfest-Umzug in Augsburg erschienen.
Die Süddeutsche Zeitung hatte vorab den Stein ins Rollen gebracht und darüber berichtet, dass Hubert Aiwanger als Schüler das antisemitische Flugblatt verfasst und an seiner Schule verbreitet haben soll. Die Zeitung berief sich dabei auf „mehrere Personen“. Aiwanger, so die Aussage dieser Personen gegenüber der SZ, sei damals, im Schuljahr 1987/88, als Verfasser des Schriftstücks „zur Verantwortung gezogen“ worden. Der Disziplinarausschuss der Schule, ein Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg, habe sich daraufhin mit dem Fall befasst. Aiwanger soll damals in die 11. Klasse gegangen sein.
Ministerpräsident-Vize Aiwanger: Ich sollte ein Referat halten
Der Freie-Wähler-Chef erklärte sich daraufhin gegenüber der SZ: „Bei mir als damals minderjährigem Schüler wurden ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden. Daraufhin wurde ich zum Direktor einbestellt. Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre.“
Als Ausweg sei ihm angeboten worden, ein Referat zu halten. „Dies ging ich unter Druck ein. Damit war die Sache für die Schule erledigt.“ Aiwanger fügte hinzu: „Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich. Auch nach 35 Jahren distanziere ich mich vollends von dem Papier.“
Pikant: Über einen Sprecher hatte Aiwanger der SZ dann wohl aber vor Veröffentlichung mitgeteilt, er habe „so etwas nicht produziert“ und eine „Schmutzkampagne“ beklagt.
Skandal um Hubert Aiwanger: Das steht im Auschwitz-Pamphlet
Das Auschwitz-Pamphlet, so wird es inzwischen genannt, hat es in sich: Es ruft zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb auf unter dem Titel: „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ Bewerber sollten sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden, ist auf dem Flugblatt zu lesen. Als Preise seien unter anderem „ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, „ein kostenloser Genickschuss“ oder „ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“ zu gewinnen. Die Schrift tauchte im Schuljahr 1987/88 in der Schultoilette auf. Geschrieben wurde das Flugblatt mit einer Schreibmaschine.
Daher schlagen die Wellen hoch. SPD-Chefin Saskia Esken verstärkte am Sonntag den Druck auf den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. „Wenn die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger zutreffen, muss Markus Söder umgehend Konsequenzen ziehen und seinen Stellvertreter entlassen“, sagte sie den Funke-Zeitungen. „Selbst wenn Aiwanger das Flugblatt nicht selbst verfasst, aber mit sich getragen und verteilt haben sollte, lassen die widerlichen und menschenverachtenden Formulierungen Rückschlüsse auf die Gesinnung zu, die dem zugrunde lag.“ Esken führte weiter aus: „Wer solche Gedanken denkt, aufschreibt und verbreitet, darf keine politische Verantwortung in Deutschland tragen.“
Der Juso-Vize, der sich demnächst zum Vorsitzenden wählen lassen möchte, Philipp Türmer, postete auf X, ehemals Twitter, ein Schulfoto und fragte provozierend, wo denn Aiwanger auf dem Bild zu sehen sei? Er meinte wohl den Jungen in der ersten Reihe – mit korrekter Kurzhaar-Frisur und Oberlippenbärtchen.
Wer erkennt den kleinen Hubsi H***er auf diesem Klassenfoto? Nach vielen Kommentaren, die ich hier gelesen habe, einfach nur ein ganz normaler Junge wie alle anderen in der Zeit!#Aiwanger #Rücktritt pic.twitter.com/GGbqs8O6kG
— Philipp Türmer (@PhilippTuermer) August 26, 2023
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte Aiwanger am Wochenende auf, die Vorwürfe aufzuklären, „und zwar vollständig“. Das Flugblatt sei „menschenverachtend, geradezu eklig“, sagte der CSU-Chef dem ZDF am Rande einer Veranstaltung in Augsburg. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, wird es wohl schwer, Aiwanger als Stellvertreter und Koalitionspartner zu halten, heißt es aus München.
Bayerns SPD fordert eine Sondersitzung des Bayerischen Landtags. „Es ist unvorstellbar, dass ein Verfasser derartiger Zeilen im Bayerischen Landtag sitzt oder auch nur einen Tag länger ein öffentliches Amt in unserem Land bekleidet“, sagte der bayerische SPD-Chef Florian von Brunn.
Der Inhalt des Flugblatts schockiert mich zutiefst. Hubert Aiwanger muss sich persönlich erklären und die Vorwürfe ausräumen.
Auch Bayerns Grüne reagierten entsetzt: „Dieses Flugblatt verhöhnt die Opfer des Holocaust. Wer so denkt, schreibt und redet, zeigt seinen Antisemitismus klar und deutlich“, sagte die Spitzenkandidatin Katharina Schulze. „Wenn die Vorwürfe sich bewahrheiten, dann muss Markus Söder Hubert Aiwanger entlassen.“
Die FDP forderte Aiwanger zu einer persönlichen Erklärung auf: „Der Inhalt des Flugblatts schockiert mich zutiefst. Hubert Aiwanger muss sich persönlich erklären und die Vorwürfe ausräumen“, sagte Bayerns FDP-Chef Martin Hagen. „Antisemitismus und rechtsextremes Gedankengut haben in Bayern keinen Platz.“
Weiter gerätselt wird, wer denn nun wirklich der Verfasser des Flugblatts war. War es wirklich nur der Bruder oder will dieser Hubert Aiwanger nun kurz vor der Landtagswahl aus der Schusslinie nehmen? „Es sind viele Fragen offen, die sollten geklärt werden“, heißt es aus Unions-Kreisen auf Nachfrage der Berliner Zeitung. Viele rechnen damit, dass der Wahlkampf jetzt sehr schmutzig werde. Das mit dem Flugblatt sei erst der Anfang.
Aiwanger sorgte 2021 für Wirbel, weil er sich als ungeimpft outete
Es ist nicht das erste Mal, dass der konservative Aiwanger für Wirbel sorgt. Mitte 2021, in der Zeit mit den höchsten Corona-Infektionen, räumte er bei einer Pressekonferenz mit CSU-Chef Markus Söder ein, dass er bislang nicht gegen Covid-19 geimpft sei. Er lehne eine solche Impfung nicht grundsätzlich ab, wolle dies aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Am 14. Juli 2021 sagte er: „Das Thema Impfen muss eine private Entscheidung des Einzelnen bleiben“ und fügte hinzu: „,Der Zweck heiligt die Mittel‘ darf kein politischer Grundsatz sein, das gilt für die Bestrafung von politisch unerwünschtem Verhalten genauso wie für die Honorierung von erwünschtem Verhalten.“


