Die deutsche Weigerung, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern, wird in vielen Ländern im Ausland mit Unverständnis aufgenommen. Benjamin Tallis ist Sicherheitsexperte an der Hertie School of Governance in Berlin und beobachtet die internationalen Reaktionen. Er hat Kontakt zu Sicherheitsexperten in ganz Europa und bescheinigt der Bundesregierung, den Ruf Deutschlands ramponiert zu haben.
Berliner Zeitung: Mr. Tallis, die deutsche Haltung im Krieg gegen die Ukraine wird vielfach kritisiert. Sie sind Brite und stehen in Kontakt mit vielen Sicherheitsexperten in verschiedenen Ländern Europas. Wie ist dort die Reaktion auf die zögerliche Haltung beim Thema Waffenlieferungen in die Ukraine?
Benjamin Tallis: Man muss leider konstatieren, dass Deutschlands Ruf rapide im Sinkflug ist und das erheblich schneller, als es manche deutsche Politiker wahrhaben wollen. Es gibt breites Befremden über die deutsche Einstellung. Für viele scheint es so zu sein, als ob deutsche Politiker lieber versuchen würden, Wege zu finden, der Ukraine nicht zu helfen, als ihr zu helfen.
In welchen Ländern ist die Enttäuschung denn am größten?
Besonders bei den Balten und Polen ist man mehr als nur verwundert über die deutsche Haltung. Aber es gibt auch Länder, die nicht immer eine so offen russlandkritische Position vertreten haben und die sich ebenfalls von Deutschland abwenden. Dazu gehört auch Tschechien. Deutschlands Ukraine-Politik ist für sie weniger ein Misserfolg als eine herbe Enttäuschung – weil man weiß, wie viel mehr Deutschland tun könnte, wenn es denn nur wollte.
In Deutschland fürchten viele einen möglichen Konflikt mit einer Atommacht. Sieht man das in anderen Ländern nicht auch als reale Möglichkeit?
Dies ist ein klassisches Beispiel für Putins Strategie der „reflexiven Kontrolle“ – was für uns Selbstabschreckung bedeutet. Es soll uns von Handlungen zur Unterstützung der Ukraine abhalten. Leider muss man konstatieren, dass dieses Scheinargument in Deutschland verfängt, während es Länder wie die USA, Großbritannien und sogar die Slowakei oder Tschechien nicht von Waffenlieferungen abhält. Sie fallen nicht darauf herein. Deutschland berechnet vor allem die kurzfristigen ökonomischen Vorteile, nicht die langfristigen Sicherheitsinteressen Deutschlands und Europas. Also ist diese „Angst“ eigentlich eine Ausrede. So stellen Nato-Partnerländer auch die Frage, wie verlässlich Deutschland denn im Ernstfall wäre, wenn ein Nato-Partnerstaat angegriffen werden würde.
In Deutschland gibt es viel Kritik aber auch Lob für das Verhalten der Regierung Scholz. Wie sieht es im Ausland aus?
Es wirkt einfach so, als seien die Entscheidungsträger inkompetent. Die Verzögerungen bei jedem einzelnen Aspekt der Unterstützung, die wechselnden Gründe, warum man verschiedene Dinge tut oder lässt, sowie die symbolische Kränkung der Ukraine mit den 5.000 Helmen und den vergammelten Flugabwehrraketen waren alle bestimmend. Schlimmer waren aber noch die Aussagen von Olaf Scholz und Robert Habeck, dass auch andere Nato-Partner keine schweren Waffen an die Ukraine liefern würden. Die waren nicht nur faktisch falsch. Sie wurden auch von Nato-Partnerländern als äußerst respektlos aufgefasst und haben die deutsche Öffentlichkeit bewusst in die Irre geführt.
Dazu heißt es oft, dass die Ukrainer zunächst an westlichen Systemen ausgebildet werden müssten, das dauere schließlich Zeit.
Dieser Aspekt ist eigentlich nochmal besonders respektlos. Es gibt diese bevormundende Haltung in Bezug darauf, dass die Ukrainer lange bräuchten, um den Umgang mit deutschen Waffensystemen zu lernen. Das ist ziemlich arrogant, schon weil die Performance der Bundeswehr jetzt nicht gerade herausragend ist. Die Ukrainer kämpfen extrem tapfer und sehr effizient. Wenn die deutschen Verantwortlichen ihnen jetzt sagen, dass sie das nicht so schnell lernen können, kommt das extrem schlecht rüber. Wenn überhaupt sollten die Deutschen eher von den Ukrainern lernen.
Sie sind Brite. Großbritannien hat die EU nun verlassen, ist aber noch in der Nato. Wie sieht man die deutsche Haltung dort?
Zunächst waren viele beeindruckt von der Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz. Denn das hätte einen tatsächlichen Wandel in der Einstellung bedeutet. Doch jetzt sieht man, dass das aber gar nicht passiert. Das führt dazu, dass die anfängliche Begeisterung verschwunden ist und der Enttäuschung gewichen ist. Man nimmt Deutschland jetzt einfach weniger ernst. Das ist schade, denn in Großbritannien respektieren wir Deutschland eigentlich und sehen das große Potenzial, das es als Partner hat und was es tun könnte, aber nicht tut. Es gibt einen echten Willen in Großbritannien zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit Deutschland. Für einen Tango braucht es aber Zwei.

In den USA gab es schon lange starke Kritik an der deutschen Russland- und Ukrainepolitik. Fühlen sich die Amerikaner bestätigt, in ihrer Skepsis gegenüber dem Kurs der deutschen Regierung in Bezug auf die Ukraine?
Ganz im Gegenteil. Die Biden-Regierung hat letztes Jahr mit der Regierung Merkel noch einen Kompromiss zu Nord Stream II ausgehandelt und vermittelt. Sanktionen hat man dafür erstmal ausgeschlossen. Dafür musste Biden erhebliche Kritik einstecken. Zudem hat man Deutschland immer weiter ermuntert durch Ankündigungen zu Hilfen für den Ausgleich der russischen Gaslieferungen bei einem Boykott. Nun zu sehen, wie wenig man am Ende bereit ist, zu tun, und wie lange es dauert, ist eine herbe Niederlage für die Amerikaner und wird sicher auch die zukünftige Politik im Umgang mit Deutschland beeinflussen. Auch hier ist es hauptsächlich eine Enttäuschung, weil das Potenzial verschwendet wird. Wenn sich Deutschlands Haltung und sein Handeln ändert, dann gibt es viel Spielraum für mehr Zusammenarbeit.
Immerhin hat Deutschland ja den Ringtausch von Panzern an Slowenien beschlossen. Was kann Deutschland noch tun?
