Mittwoch, der 24. August 2022, markiert den Beginn des siebten Monats des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Eines Krieges, der nach Ansicht des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz eine Zeitenwende für die europäische Geschichte sowie die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands darstellt. Auch wenn ein neuer Geist der Solidarität im Westen unzweifelhaft geweckt wurde und der „sanfte Optimismus der Post-Kalter-Krieg-Jahre“ laut New Statesman verflogen ist, droht dieser Geist der zunehmenden Kriegsmüdigkeit und der Angst vor einer Wirtschafts- und Energiekrise, die den inneren Zusammenhalt europäischer Gesellschaften bedroht, zu weichen.
Auch werden die Unkenrufe derjenigen lauter, die vor Waffenlieferungen an die Ukraine warnen, einen verständnisvolleren Umgang mit Russland erwarten, die Akzeptanz vitaler russischer Interessen in der Ukraine einfordern sowie auf die Aufhebung der Sanktionen drängen. Den Höhepunkt derartiger Ausführungen bildet zumeist der Vorschlag einer gemeinsamen Suche nach einer politischen Lösung, mit der auch Russland einverstanden sein könne.
Dieser sich kunstvoll in Kleider der Friedenspolitik hüllende Erklärungsansatz enthält freilich ein sehr großes Körnchen Wahrheit. Selbstverständlich gibt es eine politisch-diplomatische Lösung, die Moskau nur zu gern akzeptieren würde. Diese besteht aus Sicht der russischen Führung in einer bedingungslosen Kapitulation und der voraussetzungslosen Unterwerfung Kiews unter die Willkür Moskaus.

Die radikalen Erwartungen des Kremls ernst nehmen
So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach baldigem Frieden auch sein mag: Für die politischen und akademischen Kreise unseres Kontinentes gilt es am 181. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, nach den Untaten von Mariupol, Butscha und nach der Zerstörung unzähliger Orte in der Ukraine die schlichte Wahrheit radikaler Erwartungen des Kremls ernst zu nehmen.

Zwar gibt es in Russland neben der „Partei des Krieges“, den Befürwortern einer durch noch brutaleres Vorgehen erzwungenen bedingungslosen Kapitulation Kiews, auch eine Partei des Friedens – die Anhänger einer diplomatischen Lösung. Diese ist jedoch zu heterogen, politisch und argumentativ zu einflussschwach und zu einer koordinierten Kommunikation gegenüber der beratungsresistenten Staatsspitze unfähig.
Nach mehr als sechs Monaten fruchtloser Friedensbemühungen zwischen der Ukraine und Russland und zahllosen enttäuschten Hoffnungen kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident von Anbeginn an keinerlei Interesse an einer ehrlichen diplomatischen Lösung hatte. Vielmehr dienten die Verhandlungsgespräche Russland als ein diplomatisches Instrument zur Stärkung eigener Positionen gegenüber dem Westen, zur Unterstützung der Narrative und sowie zur Begleitung der Desinformationskampagne.
Moskau wird von seinen Minimalforderungen nicht abrücken
Kein belastbares Indiz deutet auch nur ansatzweise darauf hin, dass Moskau von den politischen Minimalforderungen – Entmilitarisierung, Entnazifizierung, politische und militärische Neutralität der Ukraine, Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk im Rahmen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk – wesentlich abzurücken bereit ist.
Das Maximalziel einer prorussischen Regierung in Kiew dürfte der russische Präsident ebenso wenig aufgegeben haben. Am 24. Juli 2022, dem Beginn des sechsten Monats der sogenannten Spezialmilitäroperation Russlands gegen die Ukraine, hat der russische Außenminister Sergej Lawrow im Rahmen einer Pressekonferenz mit den ständigen Vertretern bei der Arabischen Liga in Kairo erstmals öffentlich zugegeben, dass der Kreml die aktuelle politische Führung in Kiew stürzen und gegen ein prorussisches Marionettenregime austauschen möchte.

Die vor Aggressivität triefenden Äußerungen hochrangiger russischer Politiker und Kreml-naher Intellektueller in Interviews und ihre Beiträge auf unterschiedlichen Sozialmedienkanälen sowie die überdeutlichen Worte Wladimir Putins seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass die russische Führung in einer selbstgerechten Filterblase eigener abstruser Weltanschauung gefangen bleibt.
Der absolut überwiegende Teil der russischen Eliten ist von der feindlichen Gesinnung des Westens überzeugt, sieht sich im Zugzwang und glaubt, durch eine konstruktive Haltung im Krieg gegen die Ukraine nichts zu gewinnen, sondern nur noch mehr zu verlieren.
100 Stunden Telefonate zwischen Emanuel Macron und Wladimir Putin
Statt blind-selbstreflexive Debatten zu führen, wäre der Westen gut damit beraten, Russlands Führungselite aufmerksam zuzuhören und politische Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen russischer Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen. Nunmehr ist die Zeit für einen faktenbasierten, interessengeleiteten Pragmatismus endgültig gekommen.
Angesichts der kategorischen Positionierung der zentralen Angehörigen russischer Führungszirkel erscheinen noch so ambitionierte und gut gemeinte Vermittlungs- und Beschwichtigungsversuche – wie beispielsweise die regelmäßigen und seit Invasionsbeginn weit über 100 Stunden zählenden Telefonate zwischen Emmanuel Macron und Wladimir Putin – vergebens zu sein.

Warum die USA Mehrfachraketenwerfer-Systeme in die Ukraine liefern
Wie eine jenseits des unbedarften Wunschdenkens gangbare diplomatische Lösung tatsächlich aussehen könnte und welche Schritte von westlicher Seite dies zur Voraussetzung hätte, skizzierte der amerikanische Präsident Joseph Biden in einem Gastbeitrag für die New York Times vom 31. Mai 2022. Darin legte Biden die Beweggründe für seine Entscheidung, moderne Mehrfachraketenwerfer-Systeme an die Ukraine zu liefern, offen und präzisierte zugleich die Zielsetzungen der Vereinigten Staaten im Rahmen der militärischen, humanitären und finanziellen Unterstützung der Ukraine beim Kampf gegen die Invasion Russlands.
Die Zielsetzung der USA sei weder eine Eskalation der Kriegshandlungen noch ein regime change in Moskau, sondern eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die sich gegen weitere Aggressionen zu verteidigen vermöge.
Unter Verweis auf die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weist Biden darauf hin, dass der Ukraine-Krieg letztlich – ausschließlich auf diplomatischem Weg – beendet werde. Jedoch sei jede Friedensverhandlung das Abbild der Fakten vor Ort, so der US-Präsident. Washington habe der Ukraine innerhalb kurzer Zeit eine „beträchtliche Menge an Waffen und Munition“ zukommen lassen, damit Kiew den Kampf fortsetzen und am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnehmen könne.
Die Erfolgschancen dieses pragmatischen Zugangs werden auch von führenden russischen Analytikern bestätigt. So berichtete beispielsweise der Verteidigungsanalyst und Rüstungsexperte Ruslan Puchow, Direktor des Zentrums für die Analyse von Strategien und Technologien (CAST), Anfang August in einem Interview mit dem russischen Beratungs- und Analyseunternehmen PRISP schonungslos über den Verlauf der sogenannten Spezialmilitäroperation in der Ukraine, bewertete die Stärken und Schwächen der beiden Konfliktparteien und sparte dabei nicht an vernichtender Kritik an den russischen Streitkräften.
Die hervorragende deutschsprachige Übersetzung des Interviews Puchows erschien im Blog Konflikte & Sicherheit, dessen Autor Dank und Anerkennung gebühren. Ruslan Puchows Fazit lautet: Die westlichen Waffenlieferungen könnten kriegsentscheidend sein, zu einem Scheitern des russischen Vormarsches führen und eine Pattsituation „wie im Koreakrieg im Jahr 1951“ erzwingen.
Insofern zeichnen die Überlegungen des US-Präsidenten Joseph Biden den aktuell einzigen, realpolitisch adäquaten und glaubwürdigen Weg hin zu einer belastbaren diplomatischen Lösung. Denn je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto schneller wird die Wahrscheinlichkeit für weitere Eskalationen in und jenseits der Ukraine sinken und desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen müssen.

Wie hältst du es mit der Souveränität der Ukraine?
Olaf Scholz hat vollkommen recht, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die europäische Geschichte an einen entscheidenden Wendepunkt gebracht. Nun ist es an der Zeit, sich endgültig von dem naiven Glauben zu verabschieden, wonach der Frieden in Europa alternativlos sei und alle Akteure zwingend eine diplomatische Lösung zu erreichen hoffen.
Frieden, den man in letzter Konsequenz nicht mit Waffengewalt zu verteidigen bereit ist, kann nicht von Dauer sein. Keine faktenwidrigen und selbstgerechten Waffenstillstandsaufrufe und Appelle deutscher Politiker oder Intellektueller werden an dieser einfachen Wahrheit etwas ändern können.
Die eigentliche Gretchenfrage, die sich insbesondere Deutschland in den kommenden Wochen und Monaten stellen wird, lautet: Nun sag’, wie hältst du es mit der Souveränität der Ukraine sowie letztlich mit der Einheit des gesamten Westens? Eine ehrliche Antwort weiter Teile deutscher politischer und intellektueller Eliten auf diese Frage dürfte nach wie vor absolut erschreckend sein. Es wird wirklich Zeit für eine Zeitenwende.
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