Die große Krise hinter der Krise

Russland gefährdet mit seinem Krieg das Klima-Überleben im eigenen Land

Tauender Boden, brennende Wälder. Das Klima leidet, die Zeit verrinnt – vor allem für Russland. Hier verläuft der Klimawandel besonders schnell.

Feuerwehrleute bekämpfen einen großen Waldbrand im Medwedewski-Rajon in der russischen autonomen Republik Mari El im August 2021.
Feuerwehrleute bekämpfen einen großen Waldbrand im Medwedewski-Rajon in der russischen autonomen Republik Mari El im August 2021.imago/ITAR-TASS

Berlin-Eigentlich müsste es mit aller Kraft in eine ganz andere Richtung gehen. Denn auch in Russland verrinnt unwiederbringlich die Zeit. Während das Land in der Ukraine Krieg führt, während der Westen mit Sanktionen reagiert und ein neuer Eiserner Vorhang herunterrasselt, läuft im Hintergrund eine andere große Krise ab. Ein Blick auf Ereignisse der vergangenen Jahre umreißt ihre Dimensionen.

Allein in den letzten drei Jahren kam es immer wieder zu massiven Hitzewellen und Waldbränden – den schlimmsten in der russischen Geschichte, wie Experten sagten. Im Sommer 2021 soll eine Fläche von 17,6 Millionen Hektar Wald und Steppe verbrannt sein. Das entspricht etwa der Hälfte der Fläche Deutschlands. Besonders drastisch zeigen sich die Folgen einer zunehmenden Klimaveränderung in den sibirischen und arktischen Regionen Russlands. Im Juni 2020 wurden im nordsibirischen Werchojansk 38 Grad Celsius gemessen – 115 Kilometer nördlich des Polarkreises. Hitzerekord!

Russland sackt der Boden weg

Die seit Zehntausenden von Jahren dauerhaft gefrorenen Permafrostböden tauen nach und nach auf. In den Straßen tun sich Löcher auf, Hänge rutschen ab, Küsten verändern sich, Bahnlinien, Pipelines, Gebäude sacken weg. Umkippende Tanks verseuchen Flüsse mit Diesel. Allein in der sibirischen Stadt Norilsk hat jedes dritte Haus Schäden. Mehr als 60 Prozent Russlands liegen auf solchen Dauerfrostböden. Auf umgerechnet 57 Milliarden Euro hat das russische Umweltministerium die Schäden beziffert, die bis 2050 durch das Auftauen der Böden entstehen könnten. Doch nicht nur das: Beim Auftauen werden Treibhausgase frei – Methan und Kohlendioxid. Tausend Milliarden Tonnen sollen im Permafrost der Nordhalbkugel gespeichert sein, schätzen Forscher. Sie bilden eine zusätzliche Gefahr für das Weltklima.

Russland, das sich im Rahmen der Klimaveränderungen schneller erwärmt als der globale Durchschnitt, kann sich also im Grunde gar keinen Krieg und keine Konfrontation leisten. Es müsste dringend mit internationalen Forschern und Politikern die Klimakrise bekämpfen, zuallererst auch im eigenen Interesse. Doch das Gegenteil passiert. Gemeinsame Forschungs- und Umweltprojekte wurden im Zuge des Krieges gestoppt, auch durch die  Sanktionen des Westens.

Gerade die Arktis ist eine sehr klimasensible Region. Hier verlaufe die Klimaerwärmung mehr als doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt, erklärte die Weltorganisation für Meteorologie (WMO). Russland ist der größte Anrainerstaat der Arktis. 2019 und 2020 waren die Russen zum Beispiel an der internationalen Mosaic-Expedition beteiligt, geleitet vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Russische Eisbrecher unterstützten und versorgten das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“. Unter anderem wurde ein Netzwerk von Beobachtungsstationen auf dem Eis installiert. Über Messungen sollen die Klimaveränderungen in der Arktis besser verstanden werden, um bessere Modelle zu entwickeln, auch für das globale Klima.

Doch die wichtigen Beobachtungsreihen seien in Gefahr, teilte jüngst das AWI mit. Das trifft die Forschung hart. „Gerade die sibirische Arktis mit ihren Hitzewellen im Sommer ist die Region, wo wir hinschauen müssen“, sagte die Meeresbiologin Antje Boetius, Direktorin des AWI. Eigentlich wollten die Forscher genau das herausfinden, was auch Russland beschäftigt: warum und wie schnell die Permafrostböden auftauen. „Dort müssten jetzt eigentlich Geräte ausgetauscht werden. Das ist gestoppt“, sagte Boetius. Sie selbst habe nach Nowosibirsk reisen wollen. Aber auch das sei abgesagt.

Eiszeit im Arktischen Rat

Nur wenige Projekte dürften weitergeführt werden, heißt es. Die Regeln dafür habe das AWI zusammen mit dem Bundesforschungsministerium und dem Außenministerium getroffen. Auch Veröffentlichungen mit russischer Beteiligung sollen weiter möglich sein. „Ein Verbot des gemeinsamen Denkens auf Basis einer nationalen Zugehörigkeit kennt die Wissenschaft nicht“, sagte Boetius.

Auf der offiziellen Ebene jedoch liegt die Zusammenarbeit, die eigentlich forciert werden müsste, auf Eis. Zum Beispiel im Arktischen Rat, in dem sich 1996 die acht Anrainerstaaten der Arktis zusammengeschlossen haben. Dieser hatte schon 2004 eine Studie zu den Folgen der Erderwärmung für die Arktis herausgegeben. Mehr als 300 Wissenschaftler waren daran beteiligt. Die Studie zeigte, dass die Durchschnittstemperaturen in Alaska und Sibirien seit Mitte des 20. Jahrhunderts um zwei bis drei Grad Celsius gestiegen seien. Sie prognostizierte, dass der Nordpol gegen Ende des 21. Jahrhunderts eisfrei sein werde.

Doch statt eine Region der gemeinsamen Forschung und  Schutzmaßnahmen droht die Arktis nun eine Region der Konfrontation zu werden. Diskutiert wird über arktische Stützpunkte, neuartige Waffensysteme und die strategischen U-Boote Russlands. Die Nato hielt im März im hohen Norden eine militärische Übung ab: „Cold Response“ in Norwegen – mit rund 30.000 Soldaten, 200 Flugzeugen und 50 Schiffen aus 27 Nationen.

Die Arbeit im Arktischen Rat ruht seit Beginn des Ukraine-Kriegs. Man sei „im Pausenmodus“, heißt es, seit sieben Mitgliedsstaaten den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilten. Niemand wolle zu Treffen des Rats nach Russland reisen, das bis 2023 den Vorsitz innehat. Die westlichen Länder sagten auch die Teilnahme an einem internationalen Forum zum Thema „Arktis: Territorium des Dialogs“ im April in St. Petersburg ab. Eigentlich sollten hier Vertreter aus mehr als 50 Ländern über „Verantwortungsvolles Management für eine nachhaltige Arktis“ diskutieren, so die Veranstalter.

Ins vorige Jahrhundert zurückgeworfen

„Eigentlich müssten wir gerade alle Anstrengungen in die Bekämpfung der Klimakrise stecken und plötzlich sind wir wieder ins vorige Jahrhundert zurückgeworfen“, sagte jüngst die ukrainische Klimaforscherin Switlana Krakowska dem Portal des österreichischen Senders ORF. Krakowska leitete die ukrainische Delegation bei den abschließenden Beratungen für den Bericht des Weltklimarats IPCC, der Ende Februar erschien – ganz im Schatten des Angriffs auf die Ukraine.

Krakowska erzählte, dass auch die Ukraine lange gebraucht habe, um die Probleme zu erkennen, die mit der Erderwärmung zusammenhingen. In den letzten Jahren habe es aber immer mehr Bemühungen in der Bekämpfung der Klimakrise gegeben – von kleinen Initiativen bis zur Regierungsebene. Für die russische Regierung aber sei die Klimakrise noch immer „nicht so wichtig“. Krakowska hatte wissenschaftliche Literatur „aus Nordasien“ – also auch dem größten Teil Russlands – ausgewertet. Ihr Fazit: „Es gibt nicht viel wissenschaftliche Literatur zum Klimawandel, weder auf Englisch noch auf Russisch.“

Man hebe in Russland oft eher vermeintlich positive Auswirkungen der Erderwärmung hervor: vom wärmeren Klima für die Landwirtschaft bis zu offenen Transportwegen im Arktischen Ozean. Auch das beschleunigte Abtauen des Permafrosts, die Hitzewellen und Waldbrände hätten bisher keine „ambitionierte Klimapolitik“ in Gang gesetzt, sagen Experten. Stattdessen gebe es gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Regierung, Wirtschaft und regionaler Verwaltung, analysierte 2021 das US-amerikanische Center for Strategic and International Studies (CSIS).

Ignoranz gegenüber dem Klimawandel

Die Parteien in der Staatsduma ignorierten weitgehend den Klimawandel, heißt es in einem Artikel, geschrieben vom russischen Autor Andrei Semenov, Visiting Fellow beim CSIS. Manche Politiker sähen Darstellungen darüber als „totalen Betrug“ oder eine westliche „Falle für Russland“ an. Präsident Putin betrachte „die Klimaagenda ausschließlich als Bedrohung für die nationale Sicherheit und Wirtschaft Russlands“. Zugleich glaube eine große Mehrheit der Russen, dass sich das Klima tatsächlich ändere, auch wenn nur wenige der These zustimmten, dass der Klimawandel vor allem menschengemacht sei.

„Was den Russen paradoxerweise fehlt, ist weder das Bewusstsein für ökologische Herausforderungen noch der Wille zum Handeln, sondern eine politische Kraft, die eine Umweltagenda als Antwort auf umfassendere sozioökonomische und politische Anliegen präsentiert“, schreibt der Autor. Und mit dem Krieg rückt solch eine Agenda ganz weit in den Hintergrund. Russland hat ein riesiges Potenzial für erneuerbare Energien. Doch die  westliche Klimapolitik wie der europäische Green Deal wird von russischen Politikern als „geopolitisches und protektionistisches Projekt wahrgenommen“, „mit dem die EU den Einfluss Russlands begrenzen möchte“.

So beschrieb es jüngst die Politikwissenschaftlerin Astrid Sahm von der Stiftung Wissenschaft und Politik auf dem Portal von BR24. Leider habe die EU selbst zu dieser Politisierung der Klimaschutzpolitik beigetragen, erklärte sie. So habe etwa der EU-Klimakommissar in einem Artikel von 2021 darauf hingewiesen, „dass die Reduzierung der EU-Energieimporte kurzfristig zu mehr Instabilität führen dürfte, weil Russland seine zentrale Einkommensquelle verliere und der Kreml darauf mit abenteuerlichem Verhalten reagieren könnte“. Das klinge rückblickend fast wie eine selbst erfüllende Prophezeiung, so Astrid Sahm. Die Klimapolitik sei zu einem konfliktverschärfenden Faktor geworden.

Hoffnung auf Transformationen

Dabei wäre eine Energiewende in Russland auch für das Weltklima sehr wichtig. Russland ist das Land der fossilen Energien schlechthin – beim Export von Erdgas, Erdöl und Kohle sowie auch beim Verbrauch. Das Land lag 2020 auf Platz vier der größten Treibhausgas-Emittenten – nach China, den USA und Indien. Mancher hofft auf einen wachsenden „Transformationsdruck auf Russland“, wenn die Absatzmärkte für Gas und Öl in Europa verschwänden. „Klimafreundliche Formen der Energieerzeugung werden durch die jetzige Krise einen Aufwind erleben, einen Boom“, sagte vor einigen Tagen die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung der Deutschen Presse-Agentur. „Wir stehen vor dem Beginn des Endes des fossilen Zeitalters.“

Andere äußern sich da wesentlich vorsichtiger. Wenn das Gas aus Russland knapper werde und der Preis steige, gebe es eher eine Rückkehr zur Kohle, die woanders leichter zu besorgen ist, meinen Experten. Zu ihnen gehört Ottmar Edenhofer, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). „Wenn wir am Markt nicht umsteuern, dann wird auch wieder mehr in Kohlekraftwerke investiert, was dann hohe Emissionen über Jahrzehnte festlegt“, sagte Edenhofer.

Es scheint also sehr kurzsichtig zu sein, angesichts der Folgen des Krieges auf einen automatischen Schub für die erneuerbaren Energien zu hoffen. Zurzeit werden Gas und Öl noch dringend gebraucht. Die USA stehen auch schon bereit, ausfallende Lieferungen durch Fracking-Gas zu ersetzen – ein aus Umwelt- und Klimasicht sehr umstrittenes Flüssiggas, geliefert per Schiff.

Eine Welt im Umbruch

Vor allem muss die Gesamtlage betrachtet werden. Der Kreml bedrohe nicht nur die Ukraine, sagte die Politikwissenschaftlerin Astrid Sahm, sondern dränge auf eine komplette Neuordnung der Sicherheitsarchitektur in Europa: „Eine kriegerische Eskalation hat daher negative Auswirkungen auf alle internationalen Kooperationsformate.“ Dazu gehören auch Klimaabkommen oder Zusammenarbeit im Klimaschutz. Als „Vorgeschmack“ verwies Sahm darauf, dass Russland im Dezember 2021 im UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit Indien gegen eine Resolution gestimmt habe, die den Klimawandel erstmals als Bedrohung für internationalen Frieden und Sicherheit einstufen sollte.

Einen anderen Forscher erinnert die Lage sogar an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Revolutionen. Der Ukraine-Krieg werde „zum Multiplikator einer Mehrfachkrise, in der die Konfliktakteure schlafwandlerisch Öl ins Feuer gießen und die Eskalation vorantreiben, mit unabsehbaren Kipppunkten, Risikokaskaden und Kettenreaktionen“, schreibt Jürgen Scheffran, Professor für Klimawandel und Sicherheit an der Universität Hamburg.

„Wir erleben eine Welt im Umbruch, in der sich entscheidet, ob das alte System des fossilen Kapitalismus die Welt in eine Katastrophe stürzt oder ob sich intelligentere Alternativen durchsetzen“, erklärt Scheffran. Er hofft darauf, dass die „Schockwirkungen“ des Ukraine-Kriegs „zum Turbo für die überfällige Wende werden könnten“.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, heißt es bei Hölderlin. Doch welche Hoffnung mancher auch immer mit der aktuellen Krise verbindet – ohne oder gegen Russland kann es eine grundlegende Wende nicht geben.