Bald werden es womöglich zwei Verdächtige des Nordstream-Anschlags sein, die an die Bundesrepublik ausgeliefert werden. Einer kämpft bereits in italienischer Untersuchungshaft gegen seine Auslieferung, der andere tut es in Warschau, wo ein Gericht die Haft gerade verlängert hat. Während die Angelegenheit in Italien die meisten Leute kalt lässt, hat sie in Polen ein enormes Aufregungspotential. Polen ließ nämlich schon einmal einen mutmaßlichen Nordstream-Saboteur laufen und inzwischen haben Zeitungen berichtet, Polens Außenminister Radoslaw Sikorski, ein langjähriger Gegner von Nordstream 1 und Nordstream 2, habe sogar erwogen, dem Mann politisches Asyl und einen Orden zu verleihen. Eine etwas unüberlegte Aussage, nicht nur, weil weder Orden noch Asyl in Sikorskis Kompetenzen fallen, sondern vor allem, weil ein Orden für einen Verdächtigen ja gegen die Unschuldsvermutung verstößt. Die Äußerung zeigt, wie hoch in Polen die Empörungswellen bei diesem Thema schlagen. Bisher hieß es in Polen nämlich immer, die Ukraine sei für den Anschlag nicht verantwortlich und die von der Bundesanwaltschaft Gesuchten seien unschuldig.
Dass die mutmaßlichen Attentäter in der Ukraine als Helden betrachtet werden, weil sie Russland geschadet haben, ist vermutlich auch aus deutscher Sicht irgendwie nachvollziehbar. Aber wer immer den Anschlag damals verübt hat, hat gute Chance, auch in Polen als Held gefeiert zu werden.
Das liegt daran, dass alle bisherigen polnischen Regierungen und alle im Parlament vertretenen Parteien gegen die Pipelines waren. Zu Anfang war man empört, weil Polen dadurch Transitgebühren verloren gingen. Das Thema wurde aber schnell zu einem Sicherheitsproblem mit historischen und geopolitischen Bezügen überhöht. Aus der Frage der Transitgebühren wurde eine „deutsch-russische Verständigung über Polen hinweg“. Sikorski nannte die Pipeline bei einer Nato-Sitzung sogar einen „neuen Ribbentrop-Molotov-Pakt“ und bis heute, und allen Zeitenwenden-Beschwörungen zum Trotz, glaubt ein großer Teil der Politiker, Medien und der öffentlichen Meinung an der Weichsel, in Berlin werde hinter den Kulissen eifrig an einer Annäherung an Moskau und an einer Rückkehr zu „business as usual“ gearbeitet.
Vor diesem Hintergrund hat die relativ banale Frage, ob Polen einem deutschen Auslieferungsersuchen nachkommen soll, plötzlich ein enormes Potential, die beiderseitigen Beziehungen zu verschlechtern und einen (weiteren) Keil zwischen Nato-Bündnispartnern und in die EU zu treiben. Für die PiS und ihren Präsidenten Karol Nawrocki wäre das ein gefundenes Fressen, Donald Tusk als Lakai der Deutschen anzuprangern. Für die ohnehin anti-ukrainische und pro-russische rechtsradikale „Konföderation“ wäre es eine Steilvorlage für eine Kampagne gegen Deutschland und die Ukraine und in Polen würde es selbst bisherige Tusk-Anhänger auf die Barrikaden bringen. Für heimliche und offene Russland-Versteher an der Weichsel kommt der Fall gerade recht: Er habe ja schon immer gesagt, Russland sei es nicht gewesen, kommentierte der Konföderations-Spitzenkandidat bei der letzten Präsidentschaftswahl, Slawomir Mentzen, das deutsche Auslieferungsansuchen. Premierminister Donald Tusk fand, das Problem mit Nordstream sei nicht, dass man die Pipeline gesprengt habe, sondern dass sie überhaupt gebaut worden sei.

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