Wirtschaft

Hohe Gasrechnungen: Wir sitzen in der Falle

Zwischen Deutschland und Russland sind alle Gesprächskanäle unterbrochen. Für Familien und Unternehmen heißt das: Es dürfte alles noch viel teurer werden. 

Temperaturanzeige an einem Gasspeicher im bayerischen Wolfersberg.
Temperaturanzeige an einem Gasspeicher im bayerischen Wolfersberg.dpa/Peter Kneffel

Helge K.* steht am Gartenzaun und blickt auf das Haus in der Berliner Vorstadt, in dem seine Familie seit einigen Jahren lebt. Auf den Bäumen im Garten beginnen die Blätter sich herbstlich zu verfärben. K. sagt: „Wenn sich unsere Gasrechnung verdreifacht und die Stromrechnung weiter so steigt, wie soll ich dann meinen Kredit tilgen?“ K. hat ein Unternehmen aufgebaut, seine Frau ist Ärztin. Sie haben drei Kinder. Neben ihren Berufen betreibt die Familie ein kleines Hotel an der Ostsee: „Das Hotel werden wir wohl gar nicht mehr aufmachen“, sagt K. Es rechne sich mit den hohen Energiekosten nicht mehr. Bisher konnte man die Geschichte der Familie K. als klassische deutsche Erfolgsgeschichte beschreiben: fleißig, innovativ, positiv gestimmt. Gute Bürger, geprägt von der Behaglichkeit der Bonner Republik. Doch über Nacht hat die Familie reale Existenzängste. Wie viele andere hat K. in der Zeit der niedrigen Zinsen eine Baufinanzierung aufgenommen. Er dachte, so kann es weitergehen. Doch es kam alles ganz anders.

Es sind vor allem die drastisch gestiegenen Energiepreise, die den Leuten zu schaffen machen. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, warnte kürzlich vor einer Verdreifachung der Heizkosten. Andere Experten halten es sogar für denkbar, dass private Haushalte und Unternehmen schon bald fünfmal soviel für Heizung und Warmwasser bezahlen müssen wie bisher. „Die Leute werden in den kommenden Wochen die Vorschreibungen für ihre neuen Abschlagzahlungen bekommen. Das wird ungemütlich“, sagt ein alter SPD-Fahrensmann. Er sagt: „Es sind immer die kleinen Leute, die alles bezahlen müssen. Deshalb sind sie eigentlich die großen Leute.“ Die SPD würden die aufziehenden Verwerfungen besonders treffen, ist der frühere Politiker überzeugt. Er sagt immer noch „meine Partei“, will seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen: „Die SPD war bisher auch die Partei der Kleinunternehmer und Handwerker. Heute stelle ich bei vielen eine große politische Vereinsamung fest. Die Sozen müssen etwas tun.“

Abhängigkeit vom russischen Gas, Ausstieg aus Kohle und Atom

Deutschland ist von der weltweiten Energiekrise besonders betroffen. Die Explosion der Preise kommt mitten in die Energiewende, die noch unter Rot-Grün um die Jahrtausendwende eingeleitet wurde. Heute sagt der SPD-Veteran: „Wir hätten die Energiewende nicht gemacht, wenn wir gleichzeitig aus Kohle, Kernenergie und Gas aussteigen hätten müssen.“

Die aktuelle Bundesregierung versucht, mit hektischem Bemühen das Schlimmste zu verhindern. Am Freitag wurde der deutsche Ableger des russischen Ölkonzerns Rosneft verstaatlicht, wie schon zuvor der Gaslieferant Gazprom Germania, das jetzt SEFE heißt.  Auch eine Verstaatlichung des Gashändlers Uniper wird erwogen. Der Konzern hat bereits Milliarden an Staatshilfen verschlungen. Dazu gibt es laufend Ankündigungen von milliardenschweren „Entlastungspaketen“.

Doch trotz dieser Maßnahmen bleibt unklar, woher Deutschland künftig seine Energie beziehen wird. Man werde vollständig aus dem russischen Gas aussteigen, haben Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck kürzlich angekündigt. Ersetzt werden soll das Gas, das bis vor kurzem noch zu 70 Prozent aus Russland kam, durch Importe aus Katar, Kanada oder den USA. Doch Katar und Kanada haben bereits erklärt, nicht kurzfristig liefern zu können. Die Hersteller von Flüssiggas (LNG) in den USA haben laut einem Bericht der Financial Times ebenfalls abgewunken: Europa habe keine LNG-Häfen, die Wiedervergasungskapazität fehle ebenso wie die Pipeline-Infrastruktur. Selbst wenn es gelänge, einige Ladungen nach Europa zu bringen, sei nicht klar, was damit geschehen könne, so ein Händler. Das Problem dürfte sich verschärfen: Aktuell sind die Gaspreise auf den internationalen Märkten zwar etwas gesunken. Sie haben sich jedoch auf dem dreifachen Niveau eingependelt. Wenn es so bleibt, droht vielen Konsumenten und Unternehmen in Deutschland eine harte Zeit. Nach allgemeiner Einschätzung ist die Befüllung der Gasspeicher, die zum großen Teil noch mit russischem Gas erfolgte, für diesen Winter ausreichend. Doch was kommt dann?

Pipeline-Gas als politische Erpressung

Auf Russland kann Deutschland aktuell offenbar nicht mehr setzen: Moskau hat in einem überraschenden Schritt die bisherige Pipeline Nord Stream 1 faktisch abgedreht und ist offenbar nicht gewillt, sie wieder in Betrieb zu nehmen. Der Kreml will den Umstieg auf die neue Pipeline Nord Stream 2 erzwingen. Doch diese Pipeline hat nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aktuell keine Chance, in Betrieb zu gehen. Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums sagte dieser Zeitung: „Nord Stream 2 ist nicht zertifiziert durch die Bundesnetzagentur, darf also nicht in Betrieb gehen und steht zudem unter EU-Sanktionen.“ Ein Industriemanager sagt: „Ganz klar, die Russen erpressen uns.“

Mit dem Ende für beide Nord-Stream-Pipelines wäre Deutschland komplett vom russischen Gas abgeschnitten. Alle Fachleute sagen: Kurzfristig führe ein kompletter Lieferstopp zum Kollaps in ganzen Branchen, etwa der Chemieindustrie. Lassen die Russen Deutschland absichtlich an die Wand fahren? Niemand will das offiziell einräumen. Der russische Botschafter Sergej Netschajew antwortet auf die Frage der Berliner Zeitung, ob der Kreml eine schwierige Lage für die Menschen in Deutschland in Kauf nehme: „Dass Menschen in Deutschland im Winter nicht frieren, wird doch die Aufgabe der Bundesregierung sein.“ Deutschland habe im „Schulterschluss mit dem kollektiven Westen nie dagewesene Sanktionen gegen Russland“ eingeführt, um Russland „wirtschaftlich zu strangulieren“. Trotz der verhärteten Fronten sieht Netschajew jedoch „nichts, was einer Lösung der für den Winter anstehenden Aufgaben im Wege stünde“. Warum strömt dann aber kein Gas durch Nord Stream 1?

Netschajew referiert die bekannte russische Position: Der Gastransport durch Nord Stream 1 sei eingestellt worden, weil die in der Verdichterstation Portowaja verbauten Turbinen von Siemens Energy reparaturbedürftig seien. Eine einzige Turbine sei repariert worden. Diese sei aus Kanada nicht nach Russland, sondern nach Deutschland gebracht worden, was die Russen als eine „Verletzung der Vertragsbestimmungen“ ansehen, so der Botschafter. Aus dem Umfeld von Nord Stream 1 ist dagegen zu hören, dass der Transport der Turbinen vertraglich den Russen obliege. Dies sei aber wegen der Sanktionen nicht möglich gewesen. Nun verlangen die Russen eine „Vertragsänderung“. Der Hintergrund: Sie wollen nicht Lückenbüßer sein, wenn Deutschland in Zukunft kein russisches Gas mehr kaufen will. Die britische Siemens-Tochter, mit der der Wartungsvertrag abgeschlossen wurde, reagiere laut Netschajew „nicht auf die entsprechenden Anfragen“ von Gazprom. Gazprom brauche „handfeste Garantien, dass die reparaturbedürftigen Anlagen sicher abgegeben und zurückgeholt werden können“.

Siemens Energy stellt die Sachlage ganz anders dar. Demnach liegen die neuen Verträge bei Gazprom auf dem Tisch und müssten nur noch unterschrieben werden. Auch das Sanktionsthema sei vom Tisch. Ein Sprecher sagt der Berliner Zeitung: „Die kanadische Regierung hat mehrmals bestätigt, dass eine Genehmigung für den Transport von insgesamt sechs Turbinen für die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland erteilt wurde.“ Eine der Turbinen befinde sich in Mülheim. Sie sei betriebsbereit und könne sofort transportiert werden. Der Sprecher: „Wenn der Betreiber die Turbine wirklich haben möchte, dann bekommt er sie auch.“ Der Sprecher bestätigt außerdem, dass in Portowaja „genügend weitere Turbinen für einen Betrieb von Nord Stream 1 zur Verfügung stehen“. Dem Vernehmen sind vier Turbinen aus unbekannten Gründen abgeschaltet worden. Eine weitere Turbine könnte sofort eingebaut werden. Doch die Russen rühren keinen Finger.

Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums sagte dieser Zeitung: „Bundesminister Habeck hat sich dafür eingesetzt, dass die Turbine ohne Sanktionsauflagen nach Deutschland kommt. Dass die Turbine ohne Sanktionsauflagen ist, ist Gazprom bekannt.“ Die Bundesregierung hält das Verhalten der Russen „für einen rein politisch motivierten Vorgang“. Netschajew bestreitet dies: „Politische Hintergedanken hegen wir dabei nicht.“

Niemand zu erreichen, verschwundene und tote russische Ansprechpartner

Die Situation ist völlig festgefahren. Es scheint, als seien alle Kommunikationskanäle mit Russland verstopft. Die Russen sagen, im Wirtschaftsministerium in Berlin hebe keiner das Telefon ab, weil die Ansprechpartner fürchten, sie könnten als russische Spione verdächtigt werden. Aus der Industrie ist zu hören, dass bei Gazprom bisherige Kontaktpersonen verschwunden seien, auch von rätselhaften Selbstmorden ist die Rede. Nach Informationen der Berliner Zeitung soll sogar das Aufsichtsratsmitglied von Siemens Energy, der frühere Außenminister Sigmar Gabriel, beim Versuch gescheitert sein, mit den Russen wegen der Rettung von Nord Stream 1 in Kontakt zu kommen.

Eigentlich wollen die russischen Energieproduzenten die zahlungskräftigen Kunden in Europa nicht verlieren. China und Indien sind zwar eingesprungen, können jedoch langfristig den Russen den Preis diktieren. Trotzdem bezieht Moskau gegenüber Deutschland und der EU eine harte Position: „Man muss sich ganz genau bewusst machen, dass schlichtweg alle Energieprobleme, mit denen sich die europäischen Länder konfrontiert sehen, ihr eigenes Werk sind“, sagt Botschafter Netschajew. Die EU habe sich verspekuliert, sei aus langfristigen Verträge mit Gazprom ausgestiegen und müsse nun auf dem Spotmarkt immer höhere Preise zahlen. Die „antirussischen Maßnahmen“ hätten die Europäer endgültig „in die Sackgasse getrieben“. Wichtige Verbindungen wurden gekappt: „Polen brachte die Jamal-Europa-Pipeline zum Stillstand. Auch die Ukraine ließ über eine ihrer Transitleitungen kein Gas mehr durch.“

Laut dem Wirtschaftsministerium erhält Deutschland derzeit kein Pipelinegas mehr aus Russland. Alternativrouten nach Deutschland würden seitens Russlands weiterhin nicht bedient. Mit der Verstaatlichung von Rosneft wird der Energiekrieg weiter verschärft. Die Raffinerie PCK in Schwedt bereitet sich nach der Enteignung der Russen auf „kurzfristige Einschränkungen“ der Rohölversorgung über die Druschba-Pipeline vor. Sollten die Russen die Belieferung einstellen, befürchtet die Bundesregierung eine Gefährdung der „bundesweiten Versorgung mit lebenswichtigen Gütern“. In der Folge werden die Preise steigen.

Für viele Familien in Deutschland ist das Leben bald nicht mehr bezahlbar. Sie sind unvorbereitet und machtlos. Auch Helge K. sitzt mit seiner Familie in der Falle. „Wohlstandsverlust“ nennen die Ökonomen das Phänomen. Er sei gerade in Thüringen gewesen, erzählt K. und fragt: „Werden die Leute im Osten im Herbst auf die Straße gehen?“ Die Frage klingt, als hoffe er darauf.

*Name von der Redaktion geändert