Absolvent des Islamkollegs Deutschland e.V.

Kritik an Tagesschau-Beitrag: Vorzeige-Imam war auf Demo von Genozidleugnern

In einem Tagesschau-Beitrag wird Ender Çetin als ein moderner, von ausländischen Moscheeverbänden unabhängiger Imam vorgestellt. Doch er hat offenbar eine dunkle politische Vergangenheit.

Ender Çetin bei der Verleihung des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises im Willy-Brandt-Haus (2021).
Ender Çetin bei der Verleihung des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises im Willy-Brandt-Haus (2021).Photopress Mueller/imago

Samstag, 20 Uhr: Mehrere Millionen Menschen schalten ihre Fernseher für die aktuelle Ausgabe der „Tagesschau“ ein. Um 20.09 Uhr liest der Moderator Thorsten Schröder vom Teleprompter die folgende Meldung ab: „Erstmals haben in Deutschland angehende Imame eine von Moscheeverbänden unabhängige Ausbildung auf Deutsch abgeschlossen.“

Im folgenden Beitrag nennt Altbundespräsident Christian Wulff (CDU) die Zeugnisverleihung des vom Bundesinnenministerium geförderten Islamkollegs Deutschland einen „historischen Tag“. Ein Absolvent, der ebenfalls zu Wort kommt: Ender Çetin, Jahrgang 1976. Wie er betont, gehören er und seine Mitabsolventen zur „ersten Generation Imame made in Germany“.

Ender Çetin war 2016 auf Demo von Genozidleugnern zu sehen

Doch Çetin ist nicht irgendwer. Wie Welt-Journalist Lennart Pfahler am Samstagabend zu einem Screenshot auf X (vormals Twitter) schrieb, soll Çetin 2016 an einer türkisch-nationalistischen Demonstration teilgenommen haben. Im Hintergrund ist auf einem Transparent zu lesen: „Deutschlands Türken lehnen Vorwurf des Völkermords entschieden ab“.

Damals protestierten Deutschtürken unter Anleitung türkischer Religionsverbände gegen eine Resolution des Bundestags, in der die Massaker und Vertreibungen an im Osmanischen Reich wohnhaften Armeniern durch türkische Truppen in den Jahren 1915 und 1916 als Völkermord anerkannt werden sollten. Den Antrag hatten Union, SPD und Grüne gemeinsam eingereicht. Der „Tagesschau“-Beitrag verschweigt jedoch Çetins mutmaßliche Teilnahme an dieser Demonstration.

Brisant: Auf dem Screenshot ist Çetin mit einer Aserbaidschan-Fahne zu sehen – der Fahne jenes Landes also, das derzeit rund 100.000 Armenier aus der Kaukasusregion Bergkarabach vertreibt und dem diverse Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Auch Aserbaidschan leugnet den Genozid jungtürkischer Truppen an den Armeniern vor mehr als hundert Jahren.

Eine Rednerin auf der Demonstration vom 28. Mai 2016, über die die „Tagesschau“ damals berichtet hatte, war Pinar Çetin, Ender Çetins Ehefrau. „Wir fordern alle Parlamentsabgeordneten dazu auf, gerecht zu sein und einzusehen, dass sie kein Urteil über historische Ereignisse machen können“, sagte sie damals. Der damals diensthabende „Tagesschau“-Moderator: ebenfalls Thorsten Schröder.

Während der Zeugnisverleihung im Islamkolleg Osnabrück: Absolvent Ender Çetin (l.), Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, und Islamkolleg-Kuratoriumsvorsitzender Christian Wulff (CDU). Mazyek war wegen seiner Nähe zum türkisch-rechtsextremen Islamverband ATIB wiederholt in die Kritik geraten.
Während der Zeugnisverleihung im Islamkolleg Osnabrück: Absolvent Ender Çetin (l.), Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, und Islamkolleg-Kuratoriumsvorsitzender Christian Wulff (CDU). Mazyek war wegen seiner Nähe zum türkisch-rechtsextremen Islamverband ATIB wiederholt in die Kritik geraten.Tagesschau/Screenshot BLZ

Pinar Çetins Auftritt auf der Genozidleugner-Demonstration hatte für sie zunächst keine Konsequenzen. Im Gegenteil: 2019 durfte sie sogar auf der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen zum Leitantrag „Selbstbestimmt leben“ eine Rede halten, auf der sie unter anderem gegen das damals geplante Neutralitätsgesetz polemisierte. „Ich glaube, dass Frauen, die ein Kopftuch tragen, sehr wohl an Schulen unterrichten können“, sagte sie.

Pinar und Ender Çetin gaben 2021 den Preis der Senatsverwaltung zurück

Erst nach öffentlicher Kritik distanzierten sich die Grünen von ihrer Rednerin. Es folgte ein Auftritt von Pinar Çetin in der Katholischen Akademie in Berlin, die – ähnlich wie zuvor die Grünen – von Çetin erst nach deutlicher öffentlicher Kritik Abstand nahm.

Dann, im Dezember 2020, ehrte die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Pinar und Ender Çetin mit dem „Band für Mut und Verständigung“. Die Begründung: Man ehre beide „für ihren langjährigen, innovativen und humorvollen Einsatz für eine interkulturelle und interreligiöse Begegnung, ihr mutiges, vorbildhaftes Engagement, auch in Konflikten Brücken zu bauen, sowie für ihren leidenschaftlichen Einsatz gegen Zuschreibungen und Vorurteile“. Zu dem Zeitpunkt war Pinar Çetin bereits Vorsitzende der Deutschen Islam-Akademie – eine Funktion, die sie bis heute innehat.

Nachdem der Kölner Rechtsanwalt Ilias Uyar gegen die Ehrung Widerspruch erhoben hatte, sahen sich Pinar und Ender Çetin im Frühjahr 2021 gezwungen, den Preis der Senatsverwaltung zurückzugeben. In einer Presseerklärung schrieb Pinar Çetin: „Ich möchte klar und unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass ich die Verbrechen an den Armenier*innen um 1915/16 nicht anzweifle und die Massaker an unschuldigen Menschen aufs Schärfste verurteile.“

Und weiter: „Heute unterstütze ich den Gedanken der Resolution, ‚die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen‘.“ Auffällig: Pinar Çetin vermied den Begriff des Völkermords, sprach stattdessen von „Verbrechen“ und „Massakern“ an den Armeniern. Ender Çetin hatte sich damals bezüglich der Rückgabe des Preises nicht zu Wort gemeldet.

Ender Çetin war Gemeindevorsitzender der Neuköllner Şehitlik-Moschee

Was den türkischen Moscheenverband DITIB angeht, hat Ender Çetin eine wechselvolle Vorgeschichte. Der ehemalige Imam und Gemeindevorsitzende wurde 2016 zusammen mit allen übrigen Vorstandsmitgliedern aus dem Vorstand der Neuköllner Şehitlik-Moschee entlassen und durch neues Personal ersetzt. Damals wurde spekuliert, dass die DITIB seinen Führungsstil für zu liberal gehalten haben könnte. So engagiert sich Ender Çetin seit 2014 in der interreligiösen Initiative meet2respect – womit er beim konservativen DITIB-Verband wohl kaum auf Gegenliebe gestoßen war.

Die Şehitlik-Moschee ist für Türken wie Armenier ein symbolträchtiger Ort. Auf ihrem Friedhof sind bis heute zwei Drahtzieher im Genozid an den Armeniern vor mehr als hundert Jahren in Ehrengräbern beerdigt – Cemal Azmi und Bahaettin Şakir. Die sterblichen Überreste des Kriegsverbrechers Talaat Pascha überführte 1943 das NS-Regime in einem feierlichen Staatsakt aus Berlin in die Türkei. Bis dahin war Pascha, der als einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid gilt, auf dem Friedhof der Şehitlik-Moschee begraben.