Die Wohnungsfrage hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren dramatisch zugespitzt. Vor allem in den Ballungsgebieten und Großstädten fehlt es an bezahlbaren Wohnungen. Am härtesten trifft diese soziale Frage unserer Zeit diejenigen Menschen, die gar keine Wohnung haben. In Deutschland sind das mehrere Hunderttausend. Eine Zahl, die auf Grund des Kriegs in der Ukraine wohl noch steigen wird. Von Obdachlosigkeit, der schlimmsten Form der Wohnungslosigkeit, sind um die fünfzigtausend Menschen betroffen. Das Fatale an der Wohnungslosigkeit ist, dass den Betroffenen nicht nur ein Zuhause und eine sichere materielle Grundlage für den Alltag fehlen. Ohne einen eigenen Wohnsitz wachsen auch die Hürden für die demokratische Teilhabe massiv an.
Ohne Frage: Der Kampf gegen die Obdachlosigkeit kann nur durch die Bereitstellung von Wohnungen – und in den meisten Fällen mit entsprechenden Begleitangeboten – gewonnen werden. Doch wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir damit eine Antwort auf alle Dimensionen des Problems hätten. Ganz im Gegenteil: Wohnungslosigkeit ist eine gewaltige Herausforderung für die Betroffenen und die Gesellschaft. Deswegen darf es nicht sein, dass nur über die Betroffenen gesprochen wird, sie müssen auch mitreden können. Nur so kann es endlich eine umfassende Lösung geben.
Angesichts der schwierigen Lage, in der sich viele Wohnungslose und erst Recht Obdachlose befinden, ist das eine echte Herausforderung, jedoch keine unlösbare. Unsere Pflicht ist es, jeder und jedem die Möglichkeit zu geben, sich einzumischen und an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Dafür haben wir in unserer parlamentarischen Demokratie ein zentrales Instrument: Das Wahlrecht.
Dieses Recht haben auch Wohnungslose, sowohl bei Bundestags-, als auch bei Landtagswahlen. Doch in der Praxis wird dieses Recht kaum genutzt. Die Hürden sind schlichtweg viel zu groß. Deshalb sollten wir die anstehende Wahlrechtsreform nicht nur dafür nutzen, die Größe des Bundestags wieder in den Griff zu bekommen und ein paritätisches Wahlrecht zu schaffen, sondern auch dafür, die Stimmen der Menschen zu stärken, die noch immer so unsichtbar sind und nicht gehört werden, obwohl sie mitten unter uns leben.
Zahlreiche Wohnungslose haben immer wieder gezeigt: Sie können und wollen ein zentraler Teil der Lösung sein. Ein Beispiel ist der Aktivist Thomas Lindlmair, der 2021 in Berlin trotz immenser Hürden für den Bundestag kandidierte. Auch wenn seine Kampagne letztlich nicht von Erfolg gekrönt war, zeigt sie doch: Wohnungslose haben eine politische Stimme, die gehört werden muss. Auch Bundespräsident Steinmeier hat sich kürzlich dafür stark gemacht, das Thema Obdachlosigkeit endlich entschlossen anzugehen. Dazu gehört auch, dass das Bundesamt für Statistik in diesem Jahr erstmals verlässliche Zahlen über Wohnungslosigkeit veröffentlichen wird, auf deren Grundlage etwaige politische Maßnahmen erfolgen können.
Notwendig für den Zugang zur Partizipation sind vor allem Unterstützung und Erleichterungen bei der Registrierung für Wahlen sowie die gezielte und aktive Bereitstellung von Wahlinformationen durch Träger der Wohnungslosenhilfe. Das Institut für Menschenrechte hat im vergangenen Jahr in einer Studie auf die erheblichen Verbesserungsmöglichkeiten hingewiesen. Diese Chancen sollten wir ergreifen.
