Kulturstreit

Karl May, Winnetou und der Kampf um die Reinheit: Ein Abgrund der Illiberalität

Zwischen Rassismusvorwürfen und Völkerfreundschaft: Die DDR ertrug die Popularität des sächsischen Autors. So viel Differenz erträgt die Woke-Kultur nicht.

„Winnetou“-Bücher in einem Regal des Karl-May-Verlags
„Winnetou“-Bücher in einem Regal des Karl-May-VerlagsDPA/David Ebener

Berlin-Karl May ist wieder dort, wo er in der DDR 30 Jahre lang umherirrte: zwischen Schmuddelecke und Ehrenplatz. Meine erste Klassenlehrerin steckte mir als Achtjährige Karl-May-Bücher zu, von denen sie ein Regal voller alter Ausgaben besaß. „Trivialliteratur“, mäkelte hingegen mein späterer Deutschlehrer.

Jahrzehntelang diskutierte die DDR ganz öffentlich über den weltweit populären Abenteuerschriftsteller: Die einen wollten in seinen Werken rassistisch-kolonialistische Haltungen entdeckt haben, die anderen priesen seine auf Völkerverständigung angelegten Figuren und seine Sympathie für die Unterdrückten, seine Friedensliebe und seinen Gerechtigkeitssinn.

Die meisten mochten seine Erzählungen über freies, abenteuerliches Leben. Manche versanken glückselig in Karl Mays christlicher Romantik, die andere abstieß. Jeder wusste, dass der Mann ein Betrüger und Geschichtenerfinder war – ein grandioser Fantast.

Der Umgang mit Winnetou und seinen orientalischen Pendants geriet zum interessanten Fall in dem sonst auf eindeutige Haltung angelegten „Sag mir, wo Du stehst“-Land DDR: Hier wurde Ambivalenz zugelassen. 1947 urteilte das Neue Deutschland über Karl Mays Werke: „Überlassen wir sie ruhig unserer Jugend.“ Zwei Jahre darauf verschwanden alle 65 Titel aus dem Buchhandel und den Leihbibliotheken. Ende 1956 beschloss eine Arbeitskonferenz im Kulturministerium, aus Karl Mays Büchern „kein Politikum“ zu machen; ein Verbot brächte nur schlechtes Gerede.

Karl May: Großer Sohn Sachsens

Eine Ost-Berlinerin schrieb 1957 der Berliner Zeitung, die „verantwortlichen Stellen“ mögen sich darauf besinnen, dass Karl May ein „demokratischer und humanistischer Schriftsteller ist und bleibt“. 1958 schimpfte Kulturkritiker Ferdinand Travers antirassistisch in der Berliner: „Den USA-Herrschern ist es angenehm, dass in Deutschland ein Karl May lebte, der die Köpfe mit seinen von religiöser Heuchelei triefenden und von Rassevorurteilen durchsetzten Büchern über die eben von diesen Herrschern nächst den Negern am unmenschlichsten behandelten Indianer verkleisterte.“

Als Karl May nicht gedruckt wurde, lasen die Leute seine Bücher umso intensiver, und zwar nicht nur in Sachsen, das Karl May stolz zu seinen größten Söhnen zählt. Zerlesene, aus dem Westen eingeschmuggelte Bücher kursierten und wurden – jetzt erst recht! – verschlungen. Der Trotz ähnelt jenem des Volksfestpublikums von 2022, das einen billigen Song zum Sommerhit machte.

Winnetou wird überleben

Um Karl May und Winnetou muss man sich nicht sorgen. Die werden auch die aktuelle Episode überleben – das Zurückziehen eines trivialen, kommerziellen Winnetou-Abklatsches. Dieser arbeitet fraglos mit Klischees, genauso wie mindestens 90 Prozent aller Film- und Textprodukte der Massenunterhaltung. Der Verlag Ravensburger kapitulierte vor den Denunziationen einer Mikrogruppe. Eigentlich eine lächerliche Angelegenheit. Wir haben andere Sorgen.

Aber die Häufung der Versuche, das Leben von „Unreinem“ zu säubern, ist doch bestürzend. Noch wehrt sich die liberale Demokratie gegen das Absinken unter das differenzierte Debattenniveau der DDR. Muss man schon die deutsche Variante der illiberalen Demokratie fürchten? Werden immer mehr Verlage, Autoren, Journalisten – schließlich jeder und jede – auf freie Meinungsäußerung verzichten, weil das raue Konsequenzen haben kann?

Gleichschaltung auf woker Welle

Der Druck zur Gleichschaltung auf woker Welle lässt einen gruseln. Das ist totalitär. Nicht anders arbeitet Putins Propagandaapparat, der verbietet, Krieg Krieg zu nennen und das K-Wort drakonisch sanktioniert.

Dass ausgerechnet der Kampf gegen Rassismus in die Illiberalität führt, ist verrückt. Wortführer des Antirassismus rufen sogar zu Rassismus auf, indem sie „antirassistische Diskriminierung“ zum Heilmittel gegen rassistische Diskriminierung erheben. Das führt zur Fortsetzung des alten Übels auf erweitertem Schlachtfeld.

Wird diese Welle von allein abebben, weil sie zu lächerlich ist? Man sollte sich nicht darauf verlassen.