Wenn Martin Kopetschke in die Fahrpläne schaut, wird ihm klar, wie nahe der Krieg ist. „In zehneinhalb Stunden ist man an der Grenze zur Ukraine“, sagt der Mitinhaber der Bahnagentur Schöneberg. Derzeit geht es laut Fahrplan um 10.35 Uhr im Bahnhof Berlin Gesundbrunnen los. Nach nicht einmal einem halben Tag Bahnreise in einem klimatisierten Eurocity mit Speisewagen wird um 21.03 Uhr Przemyśl erreicht. „Und schon ist man der Katastrophe ganz nahe“, sagt Kopetschke.
Er war schon oft in dem stilvollen Bahnhof der südostpolnischen Grenzstadt, der an ein Schloss erinnert und bisher meist ziemlich leer wirkte. Nun drängen sich dort die Geflüchteten, aber auch Fahrgäste, die zurück in die Ukraine wollen. „In Berlin verkaufen Martin Kopetschke und sein Kompagnon Peter Koller Bahnfahrkarten für solche Reisen.
Über Przemyśl, Wien, Budapest oder Warschau
Mit dem Zug in die Ukraine? Ins Kriegsgebiet? „Natürlich ist das möglich“, sagt Kopetschke. In Przemyśl hat man noch am selben Abend Anschluss nach Lwiw (Lemberg). Die Hauptstadt Kyiv (Kiew) lässt sich ebenfalls auf dieser Route erreichen. Auch eine Bahnreise über Wien oder Budapest ist unverändert möglich. „Oder man nimmt den Berlin-Warszawa-Express nach Warschau und steigt dort in den Zug nach Kyiv um.“ Zwar müssen Züge in der Hauptstadt-Region Umwege fahren – aber sie fahren. Die ukrainische Eisenbahn Ukrsalisnyzja bemüht sich mit Erfolg, den Verkehr am Laufen zu halten. „Auch in Kriegszeiten müssen die Menschen reisen“, weiß Martin Kopetschke. Selbst Charkiw, die durch Artilleriebeschuss schwer beschädigte Millionenstadt, ist weiterhin per Zug erreichbar: „Die Ukraine gehört zum europäischen Buchungssystem.“

Der gebürtige Brandenburger, der in der Nähe des Bahnhofs Lichtenberg aufwuchs und vom Haus seiner Tante in Tschechien den Zugverkehr beobachtete, hat die Tastatur seines Buchungscomputers in Griffweite. Einen Preis für gute Innenraumgestaltung würde das kleine Reisebüro in der Crellestraße nicht gewinnen. Ein paar Tische, Stühle und Holzregale, alle schon ziemlich betagt, bilden das Mobiliar. Doch vieles in dem Raum zeigt, dass hier Fans der Eisenbahn arbeiten, die nicht nur Tickets innerhalb von Deutschland, nach Frankreich, Großbritannien oder Schweden verkaufen, sondern auch ein Faible für den Osten haben. Wer genauer hinschaut, entdeckt Fahrplanbücher aus Osteuropa und Karten, die für die dortigen Länder ein dichtes Schienennetz zeigen.
In die verblichene KuK-Herrlichkeit von Czernowitz oder nach Odessa
Peter Koller, der in der Bundesrepublik in einer Familie ohne Auto aufwuchs, reiste nach dem Zivildienst in die Ukraine. „Beim Umsteigen lernte ich Ukrainer kennen, die mich einluden, in ein völlig heruntergekommenes Studentenwohnheim. Sie nahmen mich sogar zu einer Hochzeitsfeier mit. Zu einigen habe ich heute noch Kontakt.“ Später schrieb er einen Ukraine-Reiseführer, der im Verlag Reise Know-How erschienen ist. Koller und Kopetschke haben das Land oft bereist, sie kennen viele Ukrainer. Wer bei ihnen eine Fahrkarte kauft, muss damit rechnen, um eine Spende gebeten zu werden.
Das Land war immer schon ein wichtiger Markt für das Duo. Von Berlin zum Beispiel nach Lwiw, dessen Altstadt in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes eingetragen ist, in die Metropole Kiew an den Ufern des Dnjepr, in die verblichene KuK-Herrlichkeit von Tscherniwzi (Czernowitz) oder in die prachtvolle Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer: Zu Friedenszeiten haben die beiden Reisebüroleute viele Fahrkarten und Reservierungen dorthin verkauft. Zwar gibt es die Schlafwagenverbindungen vom Bahnhof Lichtenberg nicht mehr, aber mit Umsteigen waren solche Reisen stets möglich.
Von touristischen Reisen wird abgeraten
Mit dem Zug in die Ukraine: Das empfiehlt in Kriegszeiten niemand mehr. Touristen und andere Schaulustige haben dort derzeit nichts zu suchen. Trotzdem wird weiterhin gereist, und manche Fahrgäste kommen dafür in die Bahnagentur, um Tickets zu erwerben. „Auch ein paar Leute in Grün und mit Rucksäcken waren schon bei uns“, erzählt Martin Kopetschke. Freiwillige, die sich beim ukrainischen Militär melden wollten, um gegen die Russen zu kämpfen? Wer weiß.
Auch Ukrainer reisen in Richtung Osten, mit dem Auto, Fernbus oder dem Zug. Um zu ihren Familien zu fahren, um bei der Armee zu dienen, um sich um Verwandte zu kümmern – Gründe gibt es viele. Vor kurzem habe die ukrainische Grenzpolizei berichtet, dass erstmals seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs mehr Menschen ein- als ausgereist sind, berichtet Martin Kopetschke. Doch mit Bürgern der Ukraine kommen die beiden Inhaber der Bahnagentur Schöneberg meist nicht richtig ins Geschäft. „In Polen reisen Ukrainer kostenlos mit dem Zug“, sagt Martin Kopetschke.
Keine Tickets nach Minsk oder Pjöngjang mehr
Trotzdem laufen im Reisebüro in der Crellestraße immer wieder die Fahrkartendrucker heiß. Als der Andrang der Geflüchteten die ersten Höhepunkte erreichte, rief jemand vom Reisezentrum der Deutschen Bahn im Berliner Hauptbahnhof in Schöneberg an. Ob sie dabei mithelfen könnten, Tickets für die Weiterreise innerhalb von Deutschland auszustellen? Kein Problem: „Wir haben rund 10.000 Fahrkarten ausgedruckt.“ Dagegen ist der Absatz von Bahnreisen nach Belarus und Russland aus nachvollziehbaren Gründen zum Erliegen gekommen. „Früher haben wir viele Fahrkarten für die Transsibirische Eisenbahn verkauft“, erzählt Martin Kopetschke. Aus und vorbei. Auch Bahnreisen nach China oder Pjöngjang in Nordkorea werden nicht mehr gebucht.
Als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der britische Regierungschef Boris Johnson und andere Politiker nach Kiew reisten, waren sie auf dem letzten Stück mit Zügen unterwegs – allerdings mit Sonderzügen. Einige Garnituren mit Salonwagen stehen bei den ukrainischen Eisenbahnen dafür bereit, erzählt Martin Kopetschke. „Meist fliegen die Politiker zunächst zum Flughafen Rzeszów-Jasionka.“ Von dort aus geht es auf der Straße nach Przemyśl, wo die Breitspurstrecke in die Ukraine beginnt.
Andere zivile Fahrgäste müssen auf das reguläre fahrplanmäßige Zugangebot zurückgreifen. Martin Kopetschke schaut in seinen Computer: „Von Berlin nach Lemberg gibt es Tickets und Reservierungen für 80 bis 90 Euro, nach Kyiv über Warschau kostet die Reise rund 130 Euro pro Weg“ – inklusive Bettkarte für den Schlafwagen.



