Eine neue heilige Kuh, also ein unantastbares Mantra, das seit Beginn des Ukraine-Krieges Einzug in die deutsche Gesellschaft gehalten hat, lautet in etwa: Deutschland muss unbedingt wieder wehrhaft werden. Denn wenn Russland erst den Donbass erobert hat, wird es vermutlich auch Dresden und Düsseldorf ins Visier nehmen, so der implizite Tenor der Leitmedien. Dafür existieren zwar keine eindeutigen Nachweise, aber nichtsdestotrotz hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Putins Truppen, angetrieben von den unersättlichen Eroberungsfantasien des Kreml-Chefs, in ein paar Jahren kurz vor der Oder stehen könnten oder zumindest das Baltikum oder Polen angreifen werden. Darauf gilt es, sich vorzubereiten.
Bei einem Großteil der Politiker, Sicherheitsexperten und Medien, die uns fast täglich in den politischen Talkshows und Leitartikeln mit Aussagen zur notwendigen Wehrtüchtigkeit des Landes behelligen, hat sich dieser Glaubenssatz fest eingebrannt. Auch bei der Bundesregierung ist das so, bei der grünen Opposition sowieso. Wer widerspricht, gilt schnell als naiv oder als „Putin-Versteher“. Vor allem das unermüdliche Sendungsbewusstsein prominenter Vertreter der Wehrhaftigkeits-Werber, wie der FDP-Europarlamentarierin Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder des CDU-Bundestagsabgeordneten Roland Kiesewetter, zeugt von einer enormen Dringlichkeit, die geradezu penetrant wirkt. Widerspruch nicht erwünscht.
Die Annahme, dass Deutschland rasch aufrüsten müsse, dient dabei als Rechtfertigung für milliardenschwere Militärinvestitionen. Gleichzeitig steigt auch der Druck aus Washington, wo ein unbequemer US-Präsident höhere Nato-Ausgaben verlangt. Eine jahrelange Unterfinanzierung der Bundeswehr hat den Zustand der Streitkräfte verschärft, und nun müssen teure Nachrüstprogramme die Lücken schließen, so das Mantra.

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