Gastbeitrag

Drohnen in Polen: Was am 9. und 10. September wirklich geschah

Der bisher heftigste Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland kam gar nicht aus der Luft. Es ging vor allem um eine Propaganda-Kampagne. Ein Gastbeitrag.

Das angeblich von einer Drohne zerstörte Dach eines Wohngebäudes in Wyryki, Ostpolen.
Das angeblich von einer Drohne zerstörte Dach eines Wohngebäudes in Wyryki, Ostpolen.Wojtek Jargilo/dpa

Russische MIG-31, die 12 Minuten lang den estnischen Luftraum unsicher machen, mit ausgeschaltetem Transponder und ohne auf Signale zu reagieren, unbekannte (zivile) Drohnen, die für Stunden die Flughäfen in Kopenhagen und Oslo lahmlegen – und schließlich ein Angriff mit ungefähr 20 (militärischen) Drohnen auf Polen in der Nacht vom 9. auf den 10. September. Und niemand weiß, was das alles bedeuten soll. Ist das ein Angriff auf Nato-Mitglieder? Wie soll man darauf reagieren? Verunsicherung überall und wie immer, wenn Menschen verunsichert sind, verlangen sie radikale, autoritäre Maßnahmen: draufhauen, bestrafen, abschießen. Seither wird in den TV-Talkshows, den Kommentarspalten der Presse und den Stammtischen und sozialen Netzwerken darüber diskutiert, ob man, wie die Türkei im November 2015, russische Kampfjets bei Verletzungen des Luftraums einfach abschießen sollte.

Das ist verständlich, aber vernünftig ist es nicht. Natürlich könnte man die Einsatzregeln für Nato-Abfangjäger entsprechend ändern, diese Änderung der russischen Regierung kommunizieren und dann danach handeln. Die Frage ist nur: Ist es die Sache wert? Dabei geht es gar nicht nur um die mögliche russische Reaktion auf so einen Schritt und darum, dass Russland damals einen Wirtschaftskrieg gegen die Türkei begann, an dessen Ende sich Recep Tayyip Erdogan bei Putin entschuldigte. Als die Sowjetunion 1962 eine US-amerikanische U-2 über Kuba abschießen ließ, war das riskant, aber rational: Die U-2 drohte die Standorte der sowjetischen, auf die USA gerichteten Raketen auf Kuba zu entdecken. Beide Seiten vertuschten den Vorfall, weil sie eine Eskalation verhindern wollten, aber auch, weil jede Seite erkannte, dass die andere so handeln musste, wie sie gehandelt hatte. Die Frage heute ist: Welchen russischen Vorteil würde das Abschießen einer MIG-31 über Estland zunichte machen? Was erfährt Russland durch einen solchen Überflug, was es nicht genauso gut (oder besser) mit Hilfe von Satellitenaufklärung herausfinden kann? Nichts, außer Details über den Entscheidungsprozess und die Reaktionszeit seiner Gegner, aber die bekommt es unabhängig davon, ob die MIGs abgeschossen, zur Landung gezwungen oder aus dem NATO-Luftraum herausbegleitet werden.

Hinzu kommt: Gegen die anderen Bedrohungen und Provokationen kann man gar nicht zurückschlagen. Wer zivile Drohnen über einem Flughafen abschießt, fühlt sich anschließend vielleicht besser und bekommt eine Menge Beifall, aber er geht ein enormes Risiko ein: eine Drohne für ein paar tausend Euro, die auf ein Flughafengelände fällt, verursacht dort unter Umständen einen Millionenschaden, etwa wenn Teile des Flughafens evakuiert werden müssen oder die Trümmer ein Flugzeug beschädigen. Man sollte nicht vergessen: Solche Aktionen heißen Provokationen, weil sie etwas provozieren wollen. Der Gegner soll sich durch eine übertriebene, emotionale Reaktion selbst ins Unrecht setzen oder er soll dazu getrieben werden, sich selbst zu schaden. Die Debatte zeigt gerade: Das funktioniert bestens.

Berliner Zeitung

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