Ukraine-Frieden

Das Finale in der Ukraine hat begonnen – Brüssel und Berlin spielen keine Rolle

Washington und Moskau verhandeln über die Nachkriegsordnung – während Berlin und Brüssel scheitern. Europa steht tatenlos am Rand und schaut zu, wie andere über seine Zukunft entscheiden.

Schützengraben, März 2022. Viele Stellungen sind verloren, viele Soldaten tot
Schützengraben, März 2022. Viele Stellungen sind verloren, viele Soldaten totIMAGO/Joseph Galanakis

Die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj lässt keinen Zweifel: Die Endphase des Ukraine-Krieges hat begonnen. Europa schaut zu. Berlin schweigt

„Derzeit befinden wir uns in einer der schwierigsten Phasen unserer Geschichte“, sagte Selenskyj in seiner Rede an die Nation. Die Gratwanderung ist offensichtlich: Es ist eine Teilkapitulation, die nicht so wirken darf – und damit die direkte Konsequenz eines Krieges, dessen Maximalziele so nie zu erreichen waren.

Im Juni 1940, kurz nach Dünkirchen, beschwor Winston Churchill im britischen Unterhaus den Durchhaltewillen seiner Nation. Seine Worte, dies könne „ihre glorreichste Stunde“ werden, wurden zum Symbol für Mut und Standhaftigkeit in Großbritanniens dunkelster Kriegszeit, der „darkest hour“.

Die gewollte Parallele zwischen Selenskyj und Churchill ist offensichtlich. Das Ergenbnis wird erheblich anders aussehen – so wie auch die Gründe und Voraussetzungen beider Kriege.

Die Genese des Friedensplans

Am Donnerstag hatte die Berliner Zeitung erstmals über Geheimpläne für einen Frieden in der Ukraine berichtet. Einer dieser Pläne, ein in Istanbul ausgearbeiteter Vorschlag zur Beendigung des Ukrainekrieges, liegt der Redaktion vor.

Arbeitsgruppen aus Kiew, Moskau und Washington haben daran mitgewirkt. Ranghohe Vertreter der Selenskyj-Partei und ukrainische Wirtschaftsvertreter waren ebenso beteiligt. Das Papier warb für „einen Weg zur Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts“ und gliederte die Lösung in vier Blöcke: territoriale Fragen, Sicherheitsfragen, humanitäre Angelegenheiten sowie Wiederaufbau und Sanktionen.

Pragmatismus in territorialen Fragen

Der Geheimplan schlug eine bemerkenswerte Lösung vor: Der bewaffnete Konflikt endet mit der Existenz von de facto „umstrittenen Territorien“. Jede Seite hätte erklärt, dass Teile ihres Territoriums „vorübergehend“ unter Kontrolle der anderen Seite stünden. Beide hätten sich verpflichtet, niemals militärische Gewalt anzuwenden, um die Kontrolle über diese Gebiete zu erlangen.

Konkret nannte das Dokument die Regionen Cherson, Saporischschja, Charkiw und Sumy. Drittstaaten, die als Sicherheitsgaranten fungiert hätten, hätten diese Territorien als russisch oder ukrainisch anerkennen können, aber niemals militärische Versuche unterstützt, die Kontrolle gewaltsam zu ändern. Diese Konstruktion erlaubte beiden Seiten, ihr Gesicht zu wahren. Ein diplomatisches Meisterstück, könnte man meinen.

Nato-Stopp und Neutralität: Die Sicherheitsarchitektur

Denn der Plan sah auch vor, dass die Ukraine Sicherheitsgarantien erhält, die Artikel 5 des Nato-Vertrags ähneln – aber außerhalb der Allianz. Die Ukraine hätte eine bewaffnete Neutralität gewählt und auf Nato-Mitgliedschaft verzichtet. Ihre Armee hätte stark bleiben dürfen, aber defensiv ausgerichtet. Ausländische Militärpräsenz wäre verboten gewesen.

Entscheidend: Die Nato hätte sich dauerhaft verpflichtet, nicht nach Osten zu expandieren. Alternativ hätten Nato-Mitgliedstaaten sich rechtlich bindend verpflichten können, gegen jede Osterweiterung zu stimmen. Die Ukraine hätte ihren Status als Staat ohne Massenvernichtungswaffen festgeschrieben.

Der Wiederaufbau-Deal: Russland zahlt freiwillig

Besonders raffiniert war die Finanzierungslösung. Russische Vermögenswerte im Ausland wären wieder freigegeben worden. Russland hätte diese dann „freiwillig“ – ganz oder größtenteils – in einen Wiederaufbaufonds eingezahlt und wäre damit zum größten Geber geworden. Der Fonds hätte transparent und unter internationaler Aufsicht operiert. Sanktionen wären aufgehoben worden, sobald Russland seine Verpflichtungen erfüllt hätte.

Die Ukraine hätte sich verpflichtet, die EU-Gesetzgebung zu nationalen und sprachlichen Minderheiten vollständig umzusetzen und die Rechte der russischen und russischsprachigen Bevölkerung zu garantieren.

Die Ukraine hätte auf Diskriminierung verzichtet und alle Beschränkungen für die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats aufgehoben.

Der 28-Punkte-Plan: Washingtons härtere Gangart

Nun hat die Financial Times einen 28-Punkte-Plan aus dem Weißen Haus veröffentlicht. Dieser ist konkreter und für die Ukraine deutlich ungünstiger: Krim, Luhansk und Donezk würden de facto als russisch anerkannt.

Die ukrainischen Streitkräfte würden auf 600.000 Mann begrenzt. Die USA würden Garantien geben, aber Kompensation dafür erhalten. Bei russischer Invasion würden alle Sanktionen wieder eingeführt.

Auch dieser Plan sieht vor, dass 100 Milliarden US-Dollar eingefrorene russische Vermögen in Wiederaufbaubemühungen fließen, allerdings von den USA geführt. Die USA würden 50 Prozent der Gewinne erhalten. Russland würde in die G8 zurückkehren. Eine gemeinsame amerikanisch-russische Arbeitsgruppe würde die Einhaltung überwachen. Trump persönlich würde einen „Friedensrat“ leiten.

Von Europa ist keine Rede mehr.

Das Versagen des Kanzleramts: Fast drei Wochen Schweigen

Über das womöglich eigentliche Skandalon schweigt die deutsche Presse mehrheitlich: Das Kanzleramt soll den Istanbul-Plan bereits am 4. November erhalten haben. Knapp drei Wochen lang – nichts. Keine Reaktion, keine Initiative, kein Versuch, sich in die Verhandlungen einzuschalten.

Während in Istanbul über Europas Zukunft verhandelt wurde, duckte sich Berlin weg. Das Ergebnis nun könnte verheerend für Kiew sein, nachdem es 2022 von europäischen Staaten in einen bewaffneten Konflikt mit Russland getrieben worden war.

Diese Passivität ist umso unverständlicher, als Deutschland historisch die Schlüsselrolle in der Beziehung zu Russland innehatte. Von Willy Brandts Ostpolitik über Helmut Kohls Verhandlungen zur Wiedervereinigung bis zu Gerhard Schröders Energiepartnerschaft – deutsche Kanzler verstanden es, mit Moskau zu reden.

Washington sieht Berlin als „ideologisches Risiko“

Nach Informationen der Berliner Zeitung betrachtet Washington aber inzwischen sowohl Brüssel als auch Berlin als „die größten Risiken“ für eine Friedenslösung.

Der Vorwurf: Sie agierten zu ideologisch, nicht pragmatisch. Deshalb wurden Israel und oppositionelle Kräfte als alternative Kommunikationskanäle etabliert, um die offiziellen europäischen Strukturen zu umgehen.

Die deutsche Diplomatie gilt in Moskau als zerrüttet. Ein vernichtendes Detail: Der amtierende deutsche Botschafter spricht kein Russisch – ein Novum in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Hinter vorgehaltener Hand wird dies in Moskau als Symbol für Deutschlands Desinteresse an ernsthaften Beziehungen gewertet.

Die historische Dimension: Gorbatschows Trauma wird geheilt

Die jetzigen Verhandlungen korrigieren einen historischen Betrug. Am 9. Februar 1990 hatte US-Außenminister James Baker Gorbatschow dreimal versichert: „Nicht ein Zoll der gegenwärtigen militärischen Jurisdiktion der Nato wird sich in östliche Richtung ausbreiten.“ Ähnliche Zusicherungen kamen von Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, François Mitterrand, Margaret Thatcher und John Major.

Die historischen Dokumente belegen dies zweifelsfrei. Baker fragte Gorbatschow: „Würden Sie ein vereintes Deutschland außerhalb der Nato vorziehen, unabhängig und ohne US-Truppen, oder würden Sie ein vereintes Deutschland mit Bindungen an die Nato vorziehen, mit Zusicherungen, dass sich der Einflussbereich der Nato nicht einen Zoll ostwärts verschieben würde?“ Gorbatschow antwortete, eine Ausweitung der Nato-Zone sei „inakzeptabel“. Baker bestätigte: „Wir stimmen dem zu.“

Genscher hatte bereits am 31. Januar 1990 in Tutzing klargestellt: Die Nato dürfe ihr Territorium nicht nach Osten ausdehnen. Am 10. Februar 1990 versicherte Kohl Gorbatschow: „Wir glauben, dass die Nato nicht die Sphäre ihrer Aktivität ausdehnen sollte.“

Das gebrochene Versprechen und seine Folgen

Diese Zusicherungen waren der Preis für Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung und zum Verbleib Gesamtdeutschlands in der Nato. Dass sie gebrochen wurden, vergiftete das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen nachhaltig. Putin bezieht sich bis heute darauf.

Nato-Generalsekretär Manfred Wörner versicherte noch im Juli 1991 einer russischen Delegation: „Wir sollten die Isolation der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zulassen.“ Er betonte, dass der Nato-Rat und er persönlich gegen eine Expansion seien – „13 von 16 Nato-Mitgliedern teilen diese Ansicht.“

Die neue Realität: Washington und Moskau entscheiden

Die aktuellen Verhandlungen zeigen brutal: Wenn es ernst wird, reden Washington und Moskau miteinander. Europa, geografisch und wirtschaftlich am stärksten betroffen, ist zum Zuschauer degradiert. Die EU, die sich als geopolitischer Akteur versteht, wird als ideologisches Hindernis wahrgenommen und umgangen.

Das ist eine Demütigung, besonders für Deutschland. Die Bundesrepublik, die sich als Brückenbauer verstand, als Vermittler zwischen Ost und West, ist zur irrelevanten Randfigur geworden. Während über die Zukunft Europas verhandelt wird, schweigt das Kanzleramt.

Merz’ fragwürdige Reaktion

Die Reaktion von Friedrich Merz auf die bekannt gewordenen Pläne offenbart die ganze Misere deutscher Außenpolitik. Statt die Chance zu ergreifen und Deutschland wieder ins Spiel zu bringen, verharrt er in ideologischen Reflexen. Die CDU, einst Partei der Entspannungspolitik unter Kohl, hat vergessen, was Realpolitik bedeutet.

Die vorliegenden Pläne bieten eine realistische Chance, den Krieg zu beenden. Sie würden eine neue europäische Sicherheitsordnung schaffen, die historische Fehler korrigiert. Die Nato-Osterweiterung würde gestoppt, Russland wieder integriert, die Ukraine neutralisiert, aber gesichert.

Doch der Preis für Europa ist hoch: Es wird über seinen Kopf hinweg entschieden. Die Verhandlungen in Istanbul zeigen, dass die multipolare Weltordnung bereits Realität ist – und Europa darin keine eigenständige Rolle spielt.

Deutschlands historisches Versagen

Das Schweigen des Kanzleramts zu dem Istanbul-Plan ist mehr als diplomatisches Versagen. Es ist die Kapitulation vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Ein Land, dessen Botschafter kein Russisch spricht, dessen Regierung drei Wochen lang zu einem Friedensplan schweigt, hat sich selbst aus dem Spiel genommen. Mehr noch: Wenn die Frontlinie als Maßstab für die künftige Kontrolle der Territorien genommen wird, verliert die Ukraine gerade täglich Land.

Die Geschichte wird fragen: Wo war Deutschland, als über Europas Zukunft verhandelt wurde? Die Antwort ist beschämend. Es duckte sich weg, gefangen in ideologischen Grabenkämpfen, unfähig zur Realpolitik, irrelevant in den Augen Washingtons und Moskaus.

Die Dokumente aus Istanbul und Washington zeigen eine neue Weltordnung, in der Europa Objekt, nicht Subjekt ist. Wenn Berlin und Brüssel nicht schnell aufwachen, wird diese Ordnung ohne sie geschaffen – aber beide werden mit den Konsequenzen leben müssen.