Die russische Armee, so der US-Nachrichtensender CNN, soll in der Umgebung der Donbass-Stadt Pokrowsk rund 110.000 Soldaten zusammengezogen haben. CNN zitierte den ukrainischen Militärchef Oleksandr Syrskyj; der hatte am Freitag gesagt, der Kreml wolle mit einer bevorstehenden Offensive die strategisch wichtige Stadt in der Ostukraine einnehmen.
Syrskyj bezeichnete Pokrowsk als derzeit „heißesten Punkt“ der 1.200 Kilometer langen Frontlinie zwischen Russen und Ukrainern. Russische Versuche, die Stadt einzunehmen, laufen seit einem Jahr – bislang ergebnislos. Sollte Moskau jetzt mehr als 100.000 Mann am Pokrowsker Frontabschnitt zusammengezogen haben, geht es um mehr als die Stadt. Vor dem Krieg lebten in Pokrowsk rund 60.000 Menschen; dort befand sich auch die letzte ukrainische Kokskohlemine. Sie wurde Anfang 2025 geschlossen.
Ein Blick auf die Karte zeigt: Pokrowsk ist das Etappenziel auf dem Weg zur russischen Eroberung des übrigen Gebiets Donezk. Dass dies den Russen nach fast dreieinhalb Jahren Krieg noch nicht gelungen ist, gilt in Moskau als wesentlicher Misserfolg.
Selbst das russische Minimalziel ist noch außer Reichweite
Von den vier im September 2022 annektierten ukrainischen Gebieten steht bisher nur Luhansk komplett unter russischer Kontrolle. Putin aber will, so unterstellen Experten, vor Beginn von Waffenstillstands- oder gar Friedensverhandlungen auf jeden Fall auch das Gebiet Donezk erobern. Luhansk und Donezk sind die Kernlande des Donbass; sie (und die Krim) in Gänze für Russland zu sichern darf als minimales russisches Kriegsziel gelten.
Doch selbst dieses Minimalziel ist noch außer Reichweite. Vom Gebiet Donezk hält Russland vielleicht zwei Drittel; an die 10.000 Quadratkilometer muss es noch erobern. In den vergangenen Monaten lag die russische Eroberungsrate in der Ukraine bei rund 250 Quadratkilometern – im Monat. Bei solchem Tempo wäre das gesamte Gebiet Donezk irgendwann 2028 in russischer Hand.
Ein solches Zeitziel dürfte sich mit den Vorstellungen des Kreml kaum decken. Wenn sich die Truppenkonzentration also bestätigt und eine russische Sommeroffensive Richtung Westen ansteht, dürfte sich die Dynamik des Kriegsgeschehens binnen kurzem ändern – oder es bleibt bei einem weiteren vergeblichen russischen Versuch.
Ziel wird neben dem vergleichsweise frontnahen Pokrowsk das Netzwerk aus Straßen und Eisenbahntrassen sein, das die logistischen Knotenpunkte Pokrowsk, Kostjantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk verbindet. Weil die Ukrainer schon vor 2022 antizipierten, das Russland es zentral auf die Donbass-Gebiete Donezk und Luhansk abgesehen hat, befindet sich dort auch das Rückgrat der ukrainischen Verteidigung.
Der ukrainische Militärchef sprach letzte Woche auch davon, dass die vergleichsweise kurzlebige ukrainische Invasion auf russisches Territorium im Gebiet Kursk 2024 ein taktisches Manöver war, um die damals schon geplante Eroberung des Rest-Donezk zu verhindern. Laut Syrskyj waren zeitweise bis zu 63.000 russische und 7.000 nordkoreanische Soldaten durch die Operation in Kursk gebunden.


