Ehre, wem Ehre gebührt: Spreeradio waren die Ersten. Der Radiosender hatte fast auf den Tag genau zum ersten Jahrestag der vergangenen Wahl Franziska Giffey und Kai Wegner eingeladen, die Regierende Bürgermeisterin von der SPD und den Oppositionsführer der CDU.
Seit April hatten die Radioleute an dem Termin gearbeitet. Jetzt, als es so weit war, mutierte das eher nostalgische Aufeinandertreffen der beiden Spitzenkandidaten aus dem Vorjahr plötzlich zum ersten Highlight im neuen Wahlkampf, der mit der Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshof, die Pannenwahl von 2021 müsse komplett wiederholt werden, inoffiziell eröffnet ist. Glück muss man auch als Radiosender manchmal haben.
Moderator Jochen Trus bekannte gleich zu Beginn, wie erschrocken er ob des Richterspruchs von Mittwoch gewesen sei. Dann wollte er von Franziska Giffey wissen, was denn das für ein Gefühl sei, nach dann einem guten Jahr im Amt dieses vielleicht schon wieder verlassen zu müssen.
Die Noch-Regierungschefin erinnerte daran, dass sie in den vergangenen Jahren „immer mal wieder durch nicht ganz einfache Situationen“ hindurchgekommen sei. Da Giffey selbst auf Beispiele verzichtete, liefern wir an dieser Stelle gerne einige nach, sozusagen zum Aussuchen: Affäre um den umstrittenen Doktortitel, Rücktritt als Bundesfamilienministerin, unerwartet knappes Wahlergebnis, Niederlage in der eigenen Partei beim Versuch, nach der Wahl die von ihr favorisierte Ampelkoalition durchzusetzen, Fortsetzung der Koalition mit Grünen und Linken, Ohrfeige durch die eigene Partei beim vergangenen Parteitag, als sie – obwohl ohne Gegenkandidaten – nicht einmal 60 Prozent der Stimmen erreichte, die jüngste Umfrage, bei der sie noch schlechtere Popularitätswerte erhielt als Vorgänger Michael Müller in seinen griesgrämigsten Zeiten.
Doch nun, so Giffey, wolle sie nach vorne schauen. Das heiße in diesem Fall, dass erstens das Gericht eine endgültige Entscheidung treffen solle, zweitens sie selbst und ihre Regierung beim nächsten Mal reibungslose Wahlen sicherstellen müssten – wenn es doch nur so einfach wäre! – und sie drittens „die Berlinerinnen und Berliner gut durch diese Krise bringen“ müsse. Sie sprach dabei natürlich nicht von einer Wahlkrise, sondern von Ukrainekrieg, Energiepreiskrise und Inflation.
Angesichts so viel Krise bekannte auch Herausforderer Kai Wegner, dass „von Freude keine Rede sein kann“, wenn er an eine mögliche Wahlwiederholung denke. Auch wenn diese ihm völlig unverhofft eine zweite Chance aufs Rote Rathaus beschert. Die erste im vergangenen Herbst hat Wegner auch wegen allerlei Armin Laschet’schem Gegenwind aus dem Bund verpatzt.
Subtil: CDU-Mann Wegner fordert den Rücktritt von Senator Geisel, ohne ihn zu fordern
Wegner ätzte dann noch ein wenig über die Pannenwahl, wohlwissend, dass die Verantwortung dafür auf ewig der damals wie heute regierenden SPD zugeschrieben wird. Dann war er beim damaligen Innensenator und damit qua Amt Rechtsaufseher über die Wahlen, Andreas Geisel, angelangt. Natürlich einem SPD-Mann. Auf des Moderators Frage, ob er denn auch – wie dieser Tage so viele mehr oder minder offen – Geisels Rücktritt fordere, sagt Wegner: „Rücktrittsforderungen finde ich schwierig.“ Nanu, weiß Wegner etwas, was andere nicht wissen? Etwa, dass Geisel womöglich auch wirklich alles in seiner Macht Stehende getan hätte, das Wahldesaster zu verhindern? Ach, i wo. Im nächsten Satz sagte Wegner zu einem möglichen Rücktritt des heutigen Bausenators: „Ich bin mir sicher, dass Herr Geisel zu keiner anderen Einschätzung kommen kann.“ Noch ausdrücklicher kann man einen Rücktritt nicht fordern, ohne ihn zu fordern.
Im Verlauf spulten Giffey und Wegner routiniert ihre Positionen zu den besonders umstrittenen Feldern Verkehrs-, Bildungs- und Wohnungsbaupolitik ab. Neuerdings gehört ja auch die Energiepolitik dazu. Während Giffey bei aller Sorge und Vorsorge auch mal berlinischen Optimismus ausstrahlte („Nüscht tun, geht auch nicht“, „Nicht kirre machen lassen“), gab Wegner den Mahner und sagte, man müsse „alles dafür tun, dass kein Strom abgeschaltet wird – auch nicht stundenweise. Und man kündigt es auch nicht an.“ In der vorangegangenen Woche war Giffey nach einem Fernsehauftritt so interpretiert worden, als halte sie stundenweise Stromausfälle für wahrscheinlich. Nun sprach sie von einem bewusst herbeigeredeten Missverständnis und stellte klar: „Ich kündige keine Stromausfälle an.“
Außerdem zeigte dieser muntere Abend vor Publikum: auch ein Jahr nach dem erfolgreichen Volksentscheid keine Berliner Politdiskussion ohne Enteignungsdebatte. Nur diesmal gab’s keinen Streit. Wegner und Giffey waren sich einig in der Ablehnung dieser Zwangsmaßnahme. Sie sei teuer (geschätzt mehr als 30 Milliarden Euro für 240.000 Wohnungen), nutzlos (keine einzige neue Wohnung entstünde) und schädlich (potenzielle Investoren würden abgeschreckt).
Dennoch verfing Wegners allzu plumper Wink mit dem Zaunpfahl nicht, als er Giffey aufforderte, bei nächster Gelegenheit gemeinsam im Abgeordnetenhaus die Enteignung abzuschmettern. Einfach so.




