Einen Tag nach dem Paukenschlag des Berliner Verfassungsgerichts bereitet sich Berlin auf eine Wahlwiederholung vor. Der Wahlkampf hat begonnen. Und dafür müssen sich die Parteien so schnell wie möglich sortieren. Denn der Termin für die Neuwahl könnte bereits im März kommenden Jahres liegen. Die Zeit drängt enorm.
Die besten Ausgangspositionen für einen neuen Wahlgang haben dabei Grüne und CDU. Nach jüngsten Umfragen haben beide zuletzt zugelegt und kommen jetzt auf 22 beziehungsweise 21 Prozent. Die SPD dagegen ist zurückgefallen und liegt mit 17 Prozent nur noch auf Platz 3.
Dass ein voller Terminkalender manchmal gar nicht so schlecht ist, erlebte Franziska Giffey am Donnerstag. An Tag eins nach der Gerichtssitzung weilte Berlins Regierende Bürgermeisterin im Nachbarland: Giffey war zu Gast in Cottbus. In der zweitgrößten Stadt Brandenburgs wird in zehn Tagen ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Das Rennen entscheidet sich zwischen Lars Schieske von der AfD und Tobias Schick von der SPD. Giffey war gekommen, um Parteifreund Schick zu unterstützen.
Doch selbstverständlich kam die Regierende Bürgermeisterin auch in der Lausitz nicht um das Thema Wahlwiederholung im gar nicht so fernen Berlin herum. So sagte sie eine umfassende Vorbereitung zu, damit es bei der Wiederholung nicht wieder zu Pannen kommt. „Ich kann das nicht ungeschehen machen, was dort passiert ist, aber ich kann dafür sorgen – jetzt, wo ich politische Verantwortung habe –, dass das nicht noch mal passiert und dass wir gut aufgestellt, gut organisiert in eine solche Nachwahl oder Wiederholungswahl gehen“, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag in Cottbus.
Interessant an Giffeys Äußerung ist der Einschub „jetzt, wo ich politische Verantwortung habe“. Damit macht sie klar, dass sie damals noch nicht in dieser Position war. Folgt man ihr weiter in ihrer Argumentation, war Vorgänger Michael Müller verantwortlich.
So weit, so richtig. Doch Müller sitzt inzwischen im Bundestag auf der Hinterbank. Dass er in der Berliner SPD noch einmal eine gewichtige Rolle spielen wird, ist unwahrscheinlich. Wie also geht es jetzt unmittelbar weiter? Wie will die SPD auch nur eine Chance haben, im kommenden März vielleicht doch wieder stärkste Partei zu werden und das Rote Rathaus zu verteidigen?
Um den SPD-Senator Andreas Geisel wird es jetzt sehr einsam
Den Ton gibt wie so oft Raed Saleh vor. Kaum hatte das Verfassungsgericht am Mittwoch seine Einschätzung zur Wahlwiederholung abgegeben, meldete sich der starke Mann der Berliner SPD zu Wort. Und das tat der Partei- und Fraktionschef sehr wortreich. „Die Berlinerinnen und Berliner müssen in der größten Krise seit Jahrzehnten infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine entlastet werden. Wir müssen die Gas- und Strompreise deckeln, unsere soziale Infrastruktur schützen, Arbeitsplätze und die Wirtschaft sichern und dafür sorgen, dass niemand seine Wohnung verliert. Es gilt, das Abrutschen breiter Bevölkerungsschichten unbedingt zu verhindern. Daran müssen sich alle Parteien im Parlament messen lassen.“
Wenigstes erwähnte Saleh in seiner Aufzählung die Passage zu den Wohnungen. Sonst würde es möglicherweise noch einsamer um Andreas Geisel. Der heutige Senator für Bauen und Stadtentwicklung war in der vorherigen Wahlperiode zuständig für Inneres. Ausgerechnet. Als Innensenator hatte er die Rechtsaufsicht über die Wahlvorbereitungen. Jetzt könnte, so mutmaßen einige in seiner Partei, Geisel geopfert werden.
Ist also Geisel seit Mittwoch ein Mann von gestern? Er selbst sieht das anders.
Noch am Mittwochabend lehnte er einen Rücktritt ab. „Es ist nicht so, dass ich nicht Verantwortung spüre. Aber die Frage ist, welche Entscheidung trifft man, um die Sache besser zu machen, und ich habe mich entschlossen zu arbeiten“, sagte er bei einem lange geplanten Leserforum der Berliner Morgenpost. „Ich selbst war Kandidat und hätte nicht eingreifen dürfen“, sagte er.
Die Koalitionspartner rücken von SPD-Personal ab
Von seinen aktuellen politischen Partnern hat Geisel sicher keine Rückendeckung zu erwarten. So sagte Linke-Geschäftsführer Sebastian Koch am Mittwoch: „Die vorläufige Einschätzung des Gerichts ist eine komplette Klatsche für den damaligen Innensenator und die zuständige Innenverwaltung.“
Am selben Tag erklärten die Grünen-Landesvorsitzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai: „Ein mieseres Zeugnis kann ein Gericht den für die Wahl Verantwortlichen nicht ausstellen.“ Und: „Berlin hat eine Führung verdient, die diese Stadt fit für die Zukunft macht.“
In der SPD werden solche Sprüche wie der Auftakt zum Wahlkampf gelesen. Und da ist sich jeder selbst der nächste.
Auch die Opposition schont Geisel naturgemäß nicht. CDU-Generalsekretär Stefan Evers fordert ihn zum Rücktritt auf. „Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie. Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Geisel Konsequenzen gezogen haben“, sagte Evers am Mittwoch.
Geisel selbst wird also froh sein, dass seine politische Zukunft einzig und allein von seinen Freundinnen und Freunden in der Sozialdemokratie abhängt. Doch auch er wird wissen, dass der Moment kommen kann, da es in seiner Partei heißt: Einer muss die Verantwortung übernehmen, damit die SPD eine Chance hat. Und das wird dann nach heutigem Stand er sein.
Verfassungsrechtler Ulrich Battis glaubt an Wahlwiederholung
Dass die Wahl womöglich doch nicht wiederholt werden müsste und Andreas Geisel damit vielleicht eine neue Chance erhielte, daran glauben nicht mehr viele. Der renommierte Verfassungsrechtler Ulrich Battis hat bereits ähnliche Verfahren selbst geführt. Neu allerdings ist für ihn die Dimension, in der die Wahl schieflief. „Der Umfang des Versagens bei dieser Wahl ist die Besonderheit. Und das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung in diesem Fall“, sagt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Dass die Berliner Politik jetzt wie ein aufgescheuchter Hornissenhaufen reagiert und sofort in den Wahlkampfmodus schaltet, ist rein politisch, rechtlich hat sich noch nichts geändert.“
Generell werde, so Battis, bei typischen Fehlern bei Wahlen in Deutschland von der Mandatsrelevanz ausgegangen. Das heißt, dass die entscheidende Frage ist, ob sich Fehler auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses auswirken. „Wenn ein knappes Ergebnis sich beispielsweise in einer Nachzählung dreht, dann wird das Wahlergebnis natürlich korrigiert.“ Ist der Fehler hingegen nicht mandatsrelevant, ändert sich auch nichts.
Dass die Fehler nicht mandatsrelevant seien, hofft auch die Innenverwaltung und beruft sich auf diesen Grundsatz. Dieser aber, so der Verfassungsrechtler, sei hier gar nicht der springende Punkt, denn: „Der Grundsatz der Mandatsrelevanz ist auf kleinere, typische Wahlfehler bei der Auszählung beschränkt.“ Bei der Berlin-Wahl hingegen liege ein flächendeckendes Versagen vor. Die Gerichtspräsidentin sprach am Mittwoch von „der Spitze des Eisbergs“.




