In einer Serie hat sich die Berliner Zeitung in den vergangenen Wochen eingehend mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beschäftigt und dabei an vielen Stellen vertieft, wo es immer noch hakt: Mängel bei der Kinderbetreuung, Überforderung von jungen Eltern, Ignoranz bei der Pflege, Ungleichbehandlung von Männern und Frauen. Nun hoffen wir auf Lösungen von Bundesfamilienministerin Lisa Paus. Wir treffen die Ministerin an einem heißen Tag Anfang dieser Woche in ihrem Ministerium an der Berliner Glinkastraße. Im Zentrum befindet sich ein Brunnen in der Gestalt eines enorm langen Tisches mit einer Wasserrinne in der Mitte. Als wir die Ministerin bitten, für ein Foto oben drauf zu steigen, nimmt sie die Hürde mühelos.
Frau Paus, die Neue Züricher Zeitung hat Ihr Ministerium kürzlich in einem Kommentar als Agitationszentrale der Grünen und Ministerium für Wokeness bezeichnet. Sie wollten der Gesellschaft ein Umerziehungsprogramm verpassen, hieß es. Wollen Sie die Gesellschaft umpflügen?
Nein, das ist Quatsch. Es ist genau umgekehrt. Wir sind in Deutschland inzwischen eine vielfältige Gesellschaft, und diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, Politik auf Augenhöhe mit der Bevölkerung zu machen. Da ist einiges in den letzten 16 Jahren nicht berücksichtigt worden. Neben der klassischen Familie Vater, Mutter, Kind haben wir auch ganz viele andere Familienformen. Diese Familien fühlen sich von den derzeitigen Gesetzen nicht ausreichend repräsentiert.
Und was heißt das dann?
Wir wollen denjenigen, deren Rechte zurzeit zu wenig berücksichtigt werden, auch Rechte geben und ihr Leben einfacher machen.
Aber diese Veränderungen machen vielleicht manchen trotzdem Angst. Was sagen Sie denen?
Wir sind als Gesellschaft gut beraten, diese Veränderungen miteinander zu besprechen und zu diskutieren. Wir werden Gesetze überarbeiten und auf einen zeitgemäßen Stand bringen. Dazu wird es zum Beispiel beim Selbstbestimmungsgesetz, mit dem wir das veraltete Transsexuellengesetz ablösen, einen breiten Beteiligungsprozess für die Zivilgesellschaft geben.
Können Sie nachvollziehen, dass das manchen zu schnell geht?
Ich sehe vor allem, dass die Gesellschaft weiter ist als die Politik. Heute wird jede dritte Ehe geschieden. Wir haben unterschiedlichste Familienformen. Etwa jedes sechste Kind lebt mit alleinerziehenden Eltern, vielfach gibt es Patchwork-Familien. Das gibt es überall in Deutschland, in der Stadt wie auf dem Land. Diese Familien haben unnötige Schwierigkeiten in ihrem Alltagsleben. Ich nenne mal ein Beispiel: Wenn ein Kind einer Patchwork-Familie einen Unfall hat und der rechtlich verantwortliche Elternteil gerade nicht greifbar ist, dann kann derzeit der andere Elternteil keine Entscheidungen treffen. Das wollen wir verbessern.
Im Familienbereich scheinen alle Entscheidungen zurzeit enorm zu polarisieren. Viel Gegenwind haben Sie sich ja auch mit dem Vorschlag eingefangen, die Journalistin Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes zu machen. Halten Sie an der Personalie fest?
Ja, selbstverständlich. Ferda Ataman ist eine großartige Person und genau die Richtige für die Leitung der Antidiskriminierungsstelle.

Was also läuft immer noch schief, was muss besser werden? Das haben wir in unserer Serie über den Mythos der Vereinbarkeit ergründet. Das Interview mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus ist der letzte Teil.
Wie wollen Sie denn nun mit den Ängsten umgehen?
Wir werden konkrete Gesetzesvorschläge vorlegen und dann können wir das diskutieren. Vieles geht bei den bisherigen Debatten in die falsche Richtung.
Was denn?
Wir haben zum Beispiel gerade Donnerstag die Eckpunkte zum Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt. Damit ermöglichen wir es denjenigen, deren Geschlechtsidentität nicht mit ihrem Geschlechtseintrag übereinstimmt, den Eintrag durch eine Erklärung beim Standesamt zu ändern. Daran hat sich im Vorfeld eine Debatte um Geschlechtsoperationen entzündet, aber da verändern wir die Rechtslage gar nicht. Die Debatten werden vermischt. Uns geht es darum, mehr Gerechtigkeit herzustellen. Wir werden unter anderem die Möglichkeit einer Verantwortungsgemeinschaft außerhalb der Ehe schaffen, in der auch mehrere volljährige Personen rechtlich Verantwortung füreinander übernehmen können. In vielen Haushalten ist das schon längst die gelebte Praxis. Das wollen wir rechtlich absichern. Wenn wir solche Vorhaben am konkreten Gesetzesvorschlag diskutieren, werden wir viele Ängste nehmen können. Da bin ich sicher.
Wie weit sind die Pläne?
Konkrete Vorschläge dazu wird es im kommenden Jahr aus dem Bundesjustizministerium geben. Wir werden auch Lösungen für lesbische Paare mit Kindern vorlegen. Bisher wird nur die gebärende Frau als Mutter eingetragen, und der zweiten Frau bleibt nur ein langwieriges Adoptionsverfahren. Das hat mit Gerechtigkeit und Vielfalt der Gesellschaft doch nichts zu tun.
Lisa Paus: Paare wünschen plötzlich egalitäre Aufteilung
Wir treffen uns ja heute vor allem, um über ein anderes Thema zu sprechen, bei dem es aus Sicht vieler Eltern einfach nicht schnell genug vorangeht: Wo sehen Sie denn die Gesellschaft bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
Da hat sich in den letzten zehn Jahren sehr viel getan, und die Gesellschaft ist auch hier viel weiter als die Rechtslage. Heute wünschen sich sehr viel mehr Paare als früher eine partnerschaftliche Aufgabenteilung. Uns liegt zu diesem Thema gerade eine neue Studie des Allensbach-Instituts vor. Da sehen wir, dass sich die Lage seit der Vorgängerstudie aus dem Jahr 2014 deutlich verändert hat: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung versteht unter Partnerschaftlichkeit heute, dass sich beide Eltern die Aufgaben bei der Kinderbetreuung, im Haushalt und im Beruf gleichgewichtig aufteilen.
Im echten Familienleben sieht es aber doch meist ganz anders aus. Da arbeiten die Väter Vollzeit und die Mütter Teilzeit, letztere kümmern sich mehr um die Kinder und viel mehr um den Haushalt.
Das, was gewünscht wird, ist eben nur das eine. In der Realität sind heute zwar öfter beide Partner erwerbstätig als früher, aber wenn man sich die Arbeitszeitmodelle genauer anschaut, dann klafft eine riesige Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Sieben Prozent der Väter arbeiten in Teilzeit, aber 66 Prozent der Mütter. Man sieht also einen deutlichen Unterschied. Wenn man dieselben Menschen aber befragt, was ihr Ideal wäre, ist das sehr viel partnerschaftlicher. Männer wollen gern weniger arbeiten und ihre 40-Stunden-Woche reduzieren. Und Frauen wollen mehr arbeiten.

Aber wie erklären Sie die große Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit?
Die Rahmenbedingungen passen nicht. Wir haben vor Kurzem Wirtschaftsvertreter gehört, die zurück zur 42-Stunden-Woche wollen. Die ist definitiv nicht gut für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Selbst wenn die Kita 42 Stunden geöffnet hätte und auch nur geschlossen wäre, wenn die Eltern Urlaub haben, müsste man schon direkt neben der Kita wohnen und arbeiten. Das funktioniert nicht.
Das würde ja auch kein Kind mitmachen.
Richtig. Andersherum wird ein Schuh daraus. In vielen Umfragen sieht man, dass Mütter gern mehr arbeiten würden. Dieses Potenzial kann man nutzen. Durch Angebote in den Unternehmen für familienfreundliche Arbeitsplätze.
Also müssen sich die Arbeitgeber verändern?
Wir haben einen Fachkräftemangel. Da sind kreative Ideen gefragt. Im Jahr 2022 wollen die Beschäftigten mitgenommen werden. Sie wollen, dass Rücksicht genommen wird auf ihre Lebenssituation und auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Arbeitgeber, die das berücksichtigen, sind im Vorteil.
Eine andere Studie, die Ihr Haus beauftragt hat, zeigt, wie groß die Unterschiede in der Familienpolitik in Ost und West waren. Reste davon wirken immer noch nach. Im Osten klappt die egalitäre Aufteilung zwischen Müttern und Vätern besser. Mehr Mütter arbeiten in Vollzeit. Hat man nach der Wende eine Chance vertan, aus Erfahrungen im Osten zu lernen?
Es ist immer noch so, dass sich die Infrastruktur bei Kita und Ganztagsschule in Ost und West unterscheidet. Da hat der Westen sehr lange gebraucht, zu erkennen, dass das wichtig ist. Viele Familien wollen Erwerbstätigkeit und Kinder partnerschaftlich vereinbaren. Allzu oft müssen sie feststellen, dass es zu wenig Betreuungsmöglichkeiten gibt. Dann setzen meistens Frauen im Job erst mal ganz aus und arbeiten dann Teilzeit. Damit sind ihre Jobchancen verbaut, denn viele Arbeitgeber suchen Vollzeitkräfte. Wir als Regierung sollten die Rahmenbedingungen schaffen, um Männern und Frauen ihr Wunschmodell bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Aber das ist es nicht alleine. Vereinbarkeit ist auch ein Thema für Arbeitgeber. Nehmen Sie die Elternzeit: 42 Prozent der Väter gehen heute in Elternzeit. Vor Einführung des Elterngeldes waren es nur 3,5 Prozent.
Aber doch nur für kurze Zeit ...
Wenn 42 Prozent der Väter Elternzeit nehmen – im Durchschnitt sind es etwa dreieinhalb Monate – dann ist das doch ein enormer Fortschritt gegenüber den drei Prozent vorher. Aber natürlich ist hier auch noch Luft nach oben. So ist es immer. Wir haben mit dem Elterngeld eine Entwicklung angestoßen, die wir weiter vorantreiben wollen. Die ersten Väter, die in Elternzeit gegangen sind, waren die Pioniere und mussten sich in den Betrieben anhören: Willst du das wirklich? Inzwischen ist es Normalität geworden, die Unternehmen haben sich daran gewöhnt und kriegen es hin.
Es wirkt, als sei 30 Jahre geschlafen worden. Im Osten gab es flächendeckende Kinderbetreuung, was man jetzt als Schlüssel für die Vereinbarkeit sieht. Wurde Zeit verschwendet?
Richtig ist: Wir haben noch heute große Ost-West-Unterschiede in der Kinderbetreuung, und es gibt immer noch viel zu tun für optimale Bedingungen. Seit 15 Jahren fordert uns die europäische Kommission auf, dass wir das Ehegattensplitting reformieren sollten …
Ist nicht passiert.
Genau, ist nicht passiert. Auch andere Regelungen, die eine partnerschaftliche Aufteilung behindern, bestehen weiter: Dass der Minijob bei der Einkommensteuer nicht angerechnet wird oder auch die Möglichkeit der Mitversicherung des einen Partners beim anderen, meistens der Frau beim Mann. Sie führt dazu, dass sich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit häufig kaum lohnt. Diese Dinge zu reformieren bedeutet, dicke Bretter zu bohren. Ich bin angetreten, um junge Familien zu unterstützen. Die meisten Befragten in unserer Studie finden es gut, dass es bei der partnerschaftlichen Vereinbarkeit vorangeht. Zwei Drittel verstehen darunter, dass beide Eltern im gleichen Umfang berufstätig sind.
Lisa Paus: In der Politik 16 Jahre Stillstand
Das war also Politikversagen bisher?
Das war in jedem Fall 16 Jahre lang zu viel Stillstand. Ein dogmatisches Festhalten an einem traditionellen Familienbild, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch andere Familienmodelle gibt. Ich bin ja selbst alleinerziehend, wenn auch in einer sehr privilegierten Situation. Noch in der vorletzten Legislaturperiode habe ich von konservativen Kollegen in der Bundestagsdebatte gehört: So was muss man doch nicht auch noch unterstützen.
Und wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Wie im falschen Film.
Es ist auch herabwürdigend?
Sicher. Es führt dazu, dass man sich in Stich gelassen fühlt. Ich setze mich mit voller Kraft dafür ein, dass wir die Vielfalt von Lebensrealitäten anerkennen, und will dafür sorgen, dass sich Menschen nicht fallen gelassen, sondern unterstützt fühlen.
Ihr Partner starb, als Ihr Kind vier war. Sind Ihnen die klassischen Vorurteile – die berufstätige Mutter als Rabenmutter – oft begegnet?
Sagen wir so, ich habe einen Umgang damit gefunden. Diese Rabenmutter-Debatte ist ja auch eine sehr deutsche Debatte. Sie ist durch nichts empirisch belegt. Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann liegt es sehr häufig daran, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für Betroffene nicht stimmen.
Was muss sich denn für die Alleinerziehenden ändern?
Jedes sechste Kind wird in einer solchen Konstellation groß, was für Mütter oftmals mit einem enormen Armutsrisiko verbunden ist. Das liegt daran, dass viele Alleinerziehende aus den unterschiedlichsten Gründen nicht erwerbstätig sind, aber auch am Sozial- und Steuerrecht. Wir haben uns in der Koalition darauf geeinigt, vor allem Alleinerziehende mit kleinem und mittlerem Einkommen zu entlasten. Der Mehrbedarf getrennter Familien, der durch Umgang und Betreuung entsteht, muss steuerlich und im Sozialrecht berücksichtigt werden. Zudem planen wir eine Steuergutschrift für Alleinerziehende. Die bisherige Regelung nutzt vor allem den Besserverdienenden.
Sie sind jetzt seit acht Wochen Familienministerin. Was motiviert Sie, sich für Familien zu engagieren?
Ich brenne für soziale Gerechtigkeit und möchte die Dinge für Kinder in diesem Land bewegen, unabhängig von der Familienkonstellation. Ich möchte seit zehn Jahren die Kindergrundsicherung einführen. Jetzt habe ich tatsächlich die Chance, das als wichtigstes sozialpolitisches Projekt dieser Koalition umzusetzen.
Kindergrundsicherung kommt 2025
Wie weit sind Sie denn bei diesem Thema?
Wir haben jetzt die einzelnen Aufgaben verteilt und einen Fahrplan erstellt. Die Umsetzung dieses Vorhabens ist sehr komplex: Sieben Ministerien sind an sechs Arbeitsgruppen beteiligt. Die wichtigste Frage ist, wie definieren wir den Grundbetrag, auf den alle Kinder Anspruch haben, und wie den einkommensabhängigen Anteil. Dann muss geregelt werden, welche Gesetze hier zusammengeführt werden sollen. Die Idee ist ja, Kinder aus dem Hartz-IV-Bezug herauszunehmen. Kindergeld, Kinderzuschlag, Bildungs- und Teilhabepaket – und wenn es nach mir geht, auch der Steuerfreibetrag – sollen darin aufgehen. Der Gesetzentwurf soll Ende nächsten Jahres fertig sein. Die Kindergrundsicherung soll eine möglichst automatisierte Auszahlung werden. Mein Ziel ist es, dass Anfang 2025 das Geld zum ersten Mal bei den Familien ankommt.
Müsste dann nicht auch das Ehegattensplitting endlich fallen?
Das Ehegattensplitting ist für die finanzielle Absicherung vieler Menschen, meist sind es Frauen, schädlich. Außerdem hat es den Effekt, dass über eine steuerliche Erleichterung Geld von Ost nach West umverteilt wird. Im Osten wirkt das Ehegattensplitting ja viel weniger, weil beide Ehepartner meist in ähnlichem Umfang arbeiten. Ich hätte es gut gefunden, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Aber es steht nicht im Koalitionsvertrag. Allerdings sind wir in einer anderen Frage endlich vorangekommen: Wir haben den Paragraf 219a, das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, endlich abgeschafft. Damit haben wir eine unnötige Drangsalierung von Frauen und Frauenarztpraxen beendet.
Wann folgt der Paragraf 218, der den Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert?











