Klimaschutz

EU-Gericht soll klären: Ist klimaschädliches Verhalten ein Verstoß gegen Menschenrechte?

2000 ältere Schweizerinnen klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf besseren Schutz vor Hitze. Auch Berliner Senioren fordern mehr Hilfe.

Anne Mahrer, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, während einer öffentlichen Anhörung im Gerichtssaal der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
Anne Mahrer, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, während einer öffentlichen Anhörung im Gerichtssaal der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)picture alliance/dpa/Keystone

Die Schweizerin Rosemarie Wydler-Wälti blickt auf ein langes Aktivistinnenleben zurück. Die heute 73-Jährige protestierte viele Jahre gegen die Nutzung der Kernkraft in der Schweiz. Nun macht sich Wydler-Wälti gemeinsam mit 2000 Mitstreiterinnen im Rentenalter daran, Geschichte zu schreiben. Die Initiative Klimaseniorinnen reichte mit Unterstützung der Umweltschutzorganisation Greenpeace Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Das Gericht verhandelt zum ersten Mal seit seiner Gründung 1959 gegen einen Vertragsstaat wegen der Verletzung der Menschenrechte durch unterlassenes Handeln gegen den Klimawandel.

Die Schweizer Initiative handelt nicht alleine. Das Gericht eröffnete Ende März ein Verfahren, in dem ein früherer Bürgermeister der vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Küstengemeinde Grande-Synthe im äußerten Nordwesten Frankreichs klagt. Im Sommer wird der EGMR die Klage von Kindern und Jugendlichen aus Portugal wegen der Verletzung des Rechts auf Leben und Gesundheit gegen 33 den EGMR anerkennende Staaten, darunter auch Deutschland, verhandeln.

Der Gerichtshof könnte Staaten zu mehr Klimaschutz verurteilen

Der EGMR könnte die verklagten Staaten zu mehr Klimaschutz verurteilen. Er könnte feststellen, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein grundlegendes Menschrecht ist. Eine solche Entscheidung würde aus Sicht von Juristen Regierungen unter Zugzwang setzen, Zielen der Klimabewegung zu entsprechen.

Es geht hier um unser Menschenrecht.

Rosemarie Wydler-Wälti, Klimaseniorinnen

Aber nicht nur gewählte Regierungen geraten unter Druck, sondern auch die Wähler. Die Regierung in Bern soll entgegen des Ergebnisses eines Volksentscheids aus dem Jahr 2021 die Kohlendioxideinsparung forcieren. Eigentlich ist die direkte Demokratie den Schweizern heilig. „Es geht hier um unser Menschenrecht. Eine solche Frage gehört von einem Gericht geklärt“, sagt die Aktivistin Wydler-Wälti.

Die besondere Gefahr für Seniorinnen durch Hitze ist umstritten

Zunächst muss das EGMR allerdings klären, ob eine Menschenrechtsverletzung überhaupt vorliegt. Entscheidend dürfte sein, ob Seniorinnen besonders unter Klimawandel und Hitzestress leiden.

Der Notfallmediziner Christian Schulz von der deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (Klug) mit Sitz in Berlin hat Zweifel, ob die Auffälligkeit in Sterbestatistiken nach Hitzewellen nicht auf die unterschiedliche Lebenserwartung von Frauen und Männern zurückzuführen ist. Frauen werden älter als Männer. Sterben viele alte Menschen bei großer Hitze, tauchen mehr Frauen in der Statistik auf, erklärt Schulz.

Studien verweisen auf biologische Faktoren

Die Klimaseniorinnen verweisen dagegen auf Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie formulieren den Verdacht, dass die Ursachen für die Übersterblichkeit von Frauen bei Hitze biologisch sein könnten. So schwitzen Frauen besonders im hohen Alter weniger als Männer. Doch bisher ist die Erkenntnislage dünn.

Die älteren Menschen zählen zur vulnerablen Gruppe.

Christian Schulz, Notfallmediziner

Notfallmediziner Schulz hält Gefahren von Hitze für ältere Menschen unabhängig des Geschlechts für  bewiesen. „Die Zahlen sind eindeutig. Die älteren Menschen zählen zur vulnerablen Gruppe“, sagt der Mediziner. Die körperliche Anpassungsfähigkeit an Hitze sinke im Alter. „Dem Körper fällt die Temperaturregulierung durch Schwitzen schwerer“, sagt er.

Pflegeheime und Kliniken müssen sich an Hitze anpassen

Pflegeheime und Krankenhäuser stünden vor der Herausforderung, mit einer sinkenden Zahl an Mitarbeitern auf die Risikolage zu reagieren. Bisweilen gebe es bauliche Mängel und Gebäude heizten sich auf wie Backöfen. „Oft fehlt es auch beim Personal an Vorwissen zum Beispiel bei der Anpassung der Medikation“, sagt der Notfallmediziner.

Eine aufsuchende Pflege hält Schulz für eine dringende Antwort auf die Bedrohung von Risikogruppen. Während des Jahrhundertsommers 2003 besuchten Sozialdienste in Frankreich Senioren, um für ihren Schutz vor den hohen Temperaturen zu sorgen. Prävention könne Gefahren für ältere Menschen minimieren. Ausschlaggebend sei aber das Ausmaß der Erderwärmung. „Bei 1,5 Grad können wir noch viel mit Anpassung erreichen. Wenn wir weiter auf dem Weg zur Drei-Grad-Erwärmung bleiben, erschöpfen sich unsere Möglichkeiten“, sagt Schulz.

Berlin gehört bei der Verteilung der zumeist älteren Hitzetoten im Vergleich zu einer weniger belastenden Region Deutschlands. Das Robert-Koch-Institut (RKI) teilt Deutschland bei der Bestimmung der hitzebedingten Sterblichkeit in Nord, Süd, West und Ost auf. Laut RKI gab es im Osten im vergangenen Jahr 700 von insgesamt 4500 Hitzetoten in Deutschland. Im Westen wurden 2000 Tote gezählt, im Süden 1400 und im Norden 400.

Landesseniorenrat fordert Hilfe bei der Suche nach kühleren Wohnungen

Dem Berliner Landesseniorenrat (LSBB) bereiten die immer heißeren Sommer dennoch Sorge. Das Gremium legt Zahlen für die Jahre 2018 bis 2020 vor und spricht von 1400 Hitzetoten in Berlin und Brandenburg. Der Landesseniorenrat lobt, dass sich Senat und Gesundheitsdienste im vergangenen Jahr zu einem Aktionsbündnis Hitzeschutz zusammengeschlossen haben. Unter anderem ist daran auch die Ärzteinitiative Klug beteiligt.

Bedürftige brauchen Hilfen für eine kühlere Wohnung.

Roland Stimpel, Landesseniorenrat

Der Zusammenschluss arbeitet gemeinsam an den Hitzeschutzplänen für die kommenden Jahre. Roland Stimpel, Sprecher für Verkehr und Klimaschutz beim LSBB, zählt auf, was aus seiner Sicht nötig ist. „Bedürftige brauchen Hilfen für eine kühlere Wohnung wohl bald so dringend, wie sie in diesem Winter Hilfen zum Heizen brauchten.“

Katharina Dietze von der Klimaschutzgruppe Omas for Future lobt das Vorgehen der Schweizer Aktivistinnen. „Alles, was Politik unter Druck setzt, ist zu begrüßen“, sagt sie. Sie glaubt nicht, dass der Gang zu Gericht nun für Klimaaktivisten die Alternative zum Protest auf der Straße wird. Prozesse könnten Jahre dauern und das sei für den Klimaschutz viel Zeit. „Ich glaube, es geht eher um Aufmerksamkeit“, sagt sie.