Exakt ein Jahr ist es jetzt her, dass sich das Versagen des Westens in Afghanistan in apokalyptischen Bildern zeigte, die um die Welt gingen. Die Taliban hatten das Land zurückerobert und die Hauptstadt mit einer Geschwindigkeit übernommen, die ihre Gegner geradezu tölpelhaft aussehen ließ. Die arrogante Unterschätzung der Taliban hat Menschenleben gekostet – und Glaubwürdigkeit.
Alles manifestierte sich in jenen Augusttagen in den Szenen heilloser Flucht. Die Streitkräfte des Westens wurden hastig abgezogen. Tausende von Afghanen wollten nicht ohne Schutz zurückbleiben. So verzweifelt waren einige, dass sie sich sogar ans Fahrgestell eines Flugzeuges klammerten. Wer ist gleichgültig genug, dass ihn oder sie diese Bilder nicht bis heute verfolgen?
Der Albtraum von Kabul vor einem Jahr hat viele Versprechen hervorgebracht. Niemand werde zurückgelassen, versicherten nahezu alle Parteien damals. Natürlich, Deutschland war im Wahlkampf. Kein Politiker, keine Politikerin wollte sich hartherzig zeigen angesichts der Bilder von verzweifelten Eltern, die ihre Babys fremden Soldaten in den Arm drückten, auf dass diese sie retten mögen. Man werde Afghanistan nicht vergessen, sagten alle immer wieder.
Ein Jahr und einige andere Krisen und Kriege später muss man sagen: Die Bilanz ist ernüchternd. Zurückhaltend ausgedrückt. Von den etwa 23.000 Ortskräften, denen die Bundesrepublik die Aufnahme in Deutschland zugesichert hat, sind jetzt etwa zwei Drittel hier angekommen. Dass es bei den unstrittigen Fällen so lange dauert, ist schlimm genug und hat mehr mit dem unabgestimmten Vorgehen deutscher Behörden zu tun, als diese zugeben möchten. Da schiebt man das Ganze gerne auf die Länder in der Region, in denen eben langsam gearbeitet werde. Tatsache ist aber, dass es auch in Deutschland aufreizend lange dauert, bis Visa für Menschen erteilt werden, die für die Bundesrepublik gearbeitet haben und genau deshalb jetzt in Lebensgefahr schweben.
Afghan women are still protesting. pic.twitter.com/Hd3LI7DzYo
— Heather Barr (@heatherbarr1) August 13, 2022
Es gibt aber Tausende in Afghanistan, die es noch gar nicht so weit gebracht haben. Aufnahmezusagen aus Deutschland seien wie bei einer Lotterie erteilt worden, beschweren sich Menschenrechtsorganisationen immer wieder. Das Ganze sei damals sehr intransparent abgelaufen.
Das mag dem Chaos vor einem Jahr geschuldet sein. Unentschuldbar ist jedoch, wenn sich die früheren Beschäftigten von Subunternehmern, die mit den Deutschen in Afghanistan gearbeitet haben, erst mal Anwälte suchen müssen, um ihre Ansprüche einzuklagen.
Die Versicherung der Bundesinnenministerin, dass sie gemeinsam mit der Außenministerin an einem neuen Aufnahmeprogramm „mit klaren Kriterien“ arbeitet, klingt da eher nach einer billigen Ausrede, um den Jahrestag halbwegs anständig zu überstehen. Klare Kriterien? Die hätte es seit Monaten gebraucht. Spricht man mit Anwälten und Aktiven, die in privater Initiative versuchen, den ehemaligen Ortskräften zu helfen, hat man den Eindruck, dass die bisherigen klaren Kriterien lauteten, dass man sich möglichst nicht zu viele Flüchtlinge aufhalsen will.
Niemand wird zurückgelassen – das war offenbar nur ein leeres Versprechen mehr, das der Westen Afghanistan gegeben hat.
Die deutschen Ortskräfte sind – trotz aller persönlichen Tragik – nur ein Teil der massenhaften Probleme, die Afghanistan hat. Nach zwanzig Jahren relativer Freiheit hat das Taliban-Regime die Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt. Mädchen dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen. Damit löst sich das Problem der geschlechtsgetrennten Vorlesungen an den Universitäten in wenigen Jahren von alleine.
So effektiv die Taliban in der Unterdrückung der Bevölkerung sind, so überfordert sind sie offenbar mit der Staatsführung. Die Hälfte der Afghanen leidet an Hunger, viele haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Die soziale Katastrophe, die sich dort anbahnt, wird die Zahl der Flüchtlinge aus dem Land weiter steigen lassen. Probleme, wohin man blickt – und viele davon gehen nicht nur auf das Konto der Taliban, sondern eben auch auf das des Westens. Er wird daher die schwere Entscheidung treffen müssen, mit dem afghanischen Machthaber zumindest teilweise zusammenzuarbeiten, um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern.



