Interview

DLF-Intendant: Es gibt ein Gefühl, dass nicht die ganze Wahrheit ans Licht kommt

Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, bezieht Stellung zum neuen Manifest, das eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordert. 

Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, im Interview mit der Berliner Zeitung
Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, im Interview mit der Berliner ZeitungPaulus Ponizak/Berliner Zeitung

Wir treffen den Intendanten des Deutschlandradios im RIAS-Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz. Stefan Raue ist ein ruhiger Zeitgenosse, der als Journalist viel erlebt hat und nun unter anderem den wichtigsten deutschen Radiosender, den Deutschlandfunk, als Intendant leitet. Er weiß, dass die Transformation vom alten Radio in die digitale Welt schwierig ist, versucht jedoch pragmatisch kleine Schritte zu gehen. Im Newsroom lacht er, als wir ihn bitten, als Ted Turner zu posieren. 

Herr Raue, Sie waren lange Jahre als Reporter tätig, unter anderem in Ostdeutschland, ehe Sie Intendant wurden. Wie hat sich der Journalismus verändert?

Als ich vor 40 Jahren bei der Zeitung angefangen habe, da gab es noch so etwas wie einen Redaktionsschluss, da gab es noch einen Setzer, der die Rechtschreibung korrigiert hat. Es gab noch einen sehr direkten Kontakt zwischen Journalisten und Publikum. Allerdings was es damals eher eine Einbahnstraßen-Kommunikation. Man hat etwas Journalistisches geschaffen, hat es gesendet, und das Publikum hat es gehört, gelesen oder angesehen. Heute sind es mindestens zwei Bahnen. Durch die digitale Revolution sind die Menschen heute in der Lage, ganz schnell zu reagieren, Anstöße zu geben, in Interaktion zu treten. Eine weitere Veränderung ist, dass vor 50 Jahren der Journalistenberuf angesehener war, manchmal hat man sogar zu viel hochgeguckt. Heute wird die journalistische Arbeit nach meiner Meinung oft zu wenig wertgeschätzt. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit, wie viel Handwerk, Recherche und Investitionen hinter guter journalistischer Arbeit stecken. Dann fällt es auch schwer einzusehen, warum man für journalistische Arbeit Geld bezahlen soll – das macht allen Medien zu schaffen.

War unser Berufsstand damals näher an der Wahrheit dran, oder wussten wir einfach nicht, wie sehr wir manipuliert wurden?

Mit Wahrheit tue ich mich ein bisschen schwer, ich bin Geisteswissenschaftler und Historiker. Jede Zeit hat ihre Perspektiven. Der Bereich des Reportierens – also das Funkhaus oder das Verlagshaus verlassen und unter die Menschen gehen, das aufnehmen, was los ist, zuhören –, das war früher weiter verbreitet. Man hat sich auch mehr Zeit genommen für die Arbeit an einem Artikel oder einem Beitrag. Die hohe Frequenz, der schnelle Takt, 24 Stunden zu berichten, ist zulasten der Nahbarkeit und der intensiven Auseinandersetzung mit den Verhältnissen gegangen.

Woher kommt dieser Zeitdruck? Sender wie Deutschlandradio könnten ja einfach sagen, da machen wir nicht mit.

Es ist interessant: Wir sehen in unserer Audiothek, dass bei uns die Beiträge besonders gut angenommen werden, die Hintergrund anbieten, sich mehr Zeit nehmen, längere Beiträge. Die sind in allen Altersklassen sehr beliebt. Das Schnelle, Kurzatmige wird eigentlich wenig goutiert. Aber wir sind natürlich Vollblutjournalisten: Wenn ich sehe, dass die anderen ein relevantes Thema haben, das ich nicht habe, das macht natürlich nervös.

Wenn es die anderen schon haben, dann brauche ich das doch nicht mehr?

Ja, das ist auch bei Deutschlandradio der Ansatz. Der Zukunftsrat hat zu uns gesagt, dass wir die Aufgabe haben, Themen, Bereiche und Publika anzusprechen, die von den anderen großen Medien nicht so bedacht werden – also klare und zielgenaue Profilierung. Das versetzt uns in die Lage, Schwerpunkte zu setzen und nicht in einen ständigen Wettlauf mit allen anderen zu geraten.

Gelingt das auch? Es ist ja eine Kultur geworden, dass alle auf die anderen schauen und das dann auch machen müssen, so ein Lawinenverhalten …

Wir haben an zwei Standorten – Köln und Berlin – sehr gestandene und erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die das auch sehr selbstbewusst vertreten. Wir haben ja eine sehr offene und gute Diskussionskultur im Haus, und ich habe da nie mitbekommen, dass Menschen sich im Sinn Ihrer Frage getrieben fühlen.  Es gibt das journalistische Ethos, seriös mit den Themen umzugehen. Das liegt auch an unserem Programm: Wir haben sehr spezifische Angebote – ob Wissenschaft, Geschichte, künstlerisches Hörspiel oder Neue Musik. Außerdem haben wir ein sachkundiges Publikum.

Kann das mitwirken?

Ja. Ein Beispiel: Wir haben seit einigen Jahren mit der „Denkfabrik“ ein Projekt, bei dem wir uns in den Programmen, online oder in Veranstaltungen, einem Thema verschreiben. Das Publikum kann über vier, fünf Themen abstimmen. Zuletzt haben 45.000 Hörer mitgemacht und sich mit großer Mehrheit für das Thema entschieden: „Es könnte so schön sein“, also wie kann man sich Zukunft vorstellen. Viele Menschen haben dabei auch großartige eigene Ideen eingebracht.

Bekommen Sie auch unmittelbar Feedback zum Programm?

Ja, ich bin immer wieder erstaunt, wie detailgenau unsere Hörerinnen und Hörer über unser Programm Bescheid wissen. Und natürlich spiegeln sich auch die großen Streitfragen in unserem Publikum – Corona, die Kriege im Nahen Osten, Ukraine, Russland. Diese Themen werden sehr strittig in unserem Publikum diskutiert. Das kommt als Beschwerde oder als eigener Beitrag, und das gilt es dann sauber auszuwerten. Die Hörerrückmeldungen werden auch vom Hörfunkrat diskutiert und zur Kenntnis genommen.

Bilden Sie, und die Medien insgesamt, die Vielfalt gerade in den strittigen Fragen wirklich ab, oder sind wir geneigt, doch eher zu schauen, was die anderen machen? Es gibt ja eine gewisse Entfremdung der Leute von den Medien, die sich in der Corona-Zeit verschärft hat …

Ich glaube, dass wir Medien viele Aspekte des ganzen Lebens um uns herum nicht ausreichend eingefangen bekommen. Aber ich würde das nicht längs der großen Streitthemen sehen. Der Zukunftsrat hat uns gesagt: Ihr sitzt in Köln und Berlin, also in urbanen Millionenzentren, aber ihr müsst in ganz Deutschland vertreten sein. Wir müssen das, was in der kleinen Stadt passiert, auf dem Land, stärker in den Blick nehmen. Man kann das am Beispiel Mobilität durchspielen: Natürlich diskutieren wir die Themen Fahrrad, Auto, Nahverkehr in Berlin oder im Ruhrgebiet ganz anders als in Oldenburg oder Dinkelsbühl oder auf dem Land. Die verschiedenen Perspektiven wollen wir in unseren Programmen noch besser hörbar machen.

Das heißt, Sie würden jetzt auch versuchen, bei Ihren Journalisten eine Vielfalt an Perspektiven hineinzubringen, da sehen Sie noch Potenzial?

Ja, unbedingt. Ein anderes Thema ist, dass wir wie alle Medien über die vergangenen Jahrzehnte sehr akademisch geworden sind. Wir müssen auch sehen, dass wir Menschen mit Prägungen aus anderen Berufszweigen wie etwa aus dem Handwerk hineinnehmen. Wir haben vor einigen Jahren die Regelung abgeschafft, dass ein Hochschulabschluss Voraussetzung für ein Volontariat ist.

Sind die Medien zu akademisch, oder sind sie zu arrogant? Hat die Entfremdung nicht dazu geführt, dass Journalisten auf die Leute herabschauen und sagen, mir doch egal, was die denken?

Ich glaube, dass da in den letzten 20 Jahren eine Menge passiert ist, gerade durch die jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die eine ganz andere Prägung und einen ganz anderen Ansatz haben, die in ihrem Lebensumfeld ganz anders vernetzt sind. Natürlich ist man als Welterklärer immer gefährdet, sich über andere zu stellen. Aber Journalisten wissen ja, dass sie heute nicht mehr den Stellenwert wie früher haben. Daher wäre jemand, der sich da überlegen fühlt, nicht mehr in der Wirklichkeit. Wenn man früher mit einem Mikrofon oder einem Kamerateam wohin kam, da war das Staunen groß, die Leute waren neugierig und voller Respekt. Diese Exklusivität ist in einer Zeit, in der jeder mit einem Mikrofon herumrennen kann, nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Fehlt es in den Redaktionen heute an Fachkompetenz, was dann oft durch ein pädagogisches Gebaren kompensiert wird?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Ich bin immer überrascht, welche Kompetenzen die jungen Redakteure und Volontäre in unser Haus einbringen, was die alles schon gesehen und erlebt haben. Wir müssen die auch ihren eigenen Weg gehen lassen. Zugleich müssen wir Transparenz schaffen und den Hörern oder Lesern zeigen, wie die Beiträge entstehen. Wir müssen transparent machen, wo haben wir recherchiert, mit wem haben wir gesprochen, wo haben wir auch mal einen Fehler gemacht.

Gerade jetzt ist ein Manifest herausgekommen, wo zahlreiche Mitarbeiter, darunter auch Mitarbeiter des Deutschlandradios, einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk fordern. Wie bewerten Sie das Manifest?

Wenn ich mir anschaue, wer da unterschrieben hat – Luc Jochimsen, Gabriele Gysi, Jürgen Fliege –, alles respektable Persönlichkeiten. Das sind nicht Menschen, die in den letzten Jahren verschwiegen oder unterdrückt wurden. Deswegen ist dieser Vorwurf der Zensur oder des Einschränkens da nicht so konkret fassbar. Ich habe mir das Papier mehrfach durchgelesen, aber so richtig bin ich der Sache nicht auf die Spur gekommen. Ich kann nur sagen, dass Themen wie Corona oder Ukraine und Russland bei uns im Haus sehr intensiv und vielschichtig diskutiert werden. Es wird sehr offen diskutiert, da haben auch diejenigen mitdiskutiert, die da unterschrieben haben. Ich kann viele Sätze nachvollziehen, die da stehen. Mit der generellen Stoßrichtung – im Öffentlich-Rechtlichen werden Themen ausgeblendet oder nicht gehört oder gesendet – kann ich wenig anfangen. Das ist in unserem Haus eine ganz andere Praxis.

Kann es sein, dass die Verfasser ein Unbehagen artikuliert haben, mit dem man sich beschäftigen sollte?

Ich würde sagen, das ist ein Thema gegenüber der Wissenschaft und den Medien insgesamt, das ist kein spezifisch öffentlich-rechtliches Thema. In den letzten Jahren ist die Skepsis der Menschen gegenüber den etablierten Wissensagenturen – Wissenschaften, Universitäten, Verlage, Medien – gewachsen. Das würde das Nachdenken lohnen, warum das so gekommen ist. Den Vorwurf, dass man etwas zu viel betont und etwas anderes zu wenig, den hat es immer schon gegeben, das ist nicht neu. Aber das Gefühl, dass nicht die ganze Wahrheit ans Licht kommt, das ist schon bei vielen Menschen durchaus verbreitet. Das müssen wir als Medienleute ernst nehmen. Insoweit findet so ein Aufruf auch das Interesse bei einem gewissen Publikum. Aber für eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Manifest fehlen mir da jetzt die konkreten Vorwürfe.

Einer der Punkte in dem Manifest ist, dass sich in den Medien eine gewisse Herablassung im Umgang mit Kritikern eingestellt hat – Begriffe wie „Schwurbler“, „Verschwörungstheoretiker“, „Putin-Versteher“ und ähnliche werden eher inflationär verwendet. Ein Sender wie Deutschlandradio könnte hier doch stilprägend sein und einfach sagen, wir verzichten auf diese Attribute?

Ja, aber man muss auch beharrlich bleiben in der eigenen Formulierung, in dem, was man als anständig und integer bezeichnet. Man darf sich auf manchen Tonfall in der digitalen Welt nicht einlassen. Wenn man meint, man muss da mit polemisieren wie in den sozialen Medien, kommt da nichts Vernünftiges bei raus. Die Fähigkeit, dem anderen zuzuhören und eine andere Meinung auch mal zu reflektieren, ist unabdingbar für ein demokratisches Gemeinwesen. Wir sehen es als Deutschlandradio auch als unsere Aufgabe, hier ein Forum in unseren Sendungen zu bieten. Unsere „Denkfabrik“ ist da auch ein gutes Beispiel, immer respektvoll gegenüber verschiedenen Meinungen.

Welche Lehren müssen wir Medien aus der Corona-Berichterstattung ziehen?

Wir alle waren in der ersten Phase durch die zerstörerische Kraft dieser Krankheit überfordert. Das betraf Politik, Medien, Ärzte, Pfleger. Ich habe mit vielen Menschen im medizinischen Bereich geredet, und sie haben mir alle gesagt, sie haben noch nichts Vergleichbares erlebt – überfüllte Intensivstationen, Menschen, die auf den Gängen gestorben sind, das sind Dimensionen, die alle überfordert haben. Es ist auch mir selbst so gegangen. Ich habe manches nicht verstanden, weil ich es so nicht gekannt habe: dass wir alle mit Masken herumlaufen mussten, dass wir sogar in der Familie Abstand halten mussten, damit wir den Großvater nicht gefährden, das sind Dinge, die wir so nicht kannten. Da sind bestimmt Fehler gemacht worden, aber die sind ohne Vorsatz gemacht worden. Bei uns im Haus hatten wir das Privileg, auf eine gestandene Wissenschaftsredaktion zurückgreifen zu können, die bestmöglich die weiteren Entwicklungen der Pandemie journalistisch begleitet hat.

Aber später – wäre da an der einen oder anderen Stelle mehr Kritik angebracht gewesen? Etwa, wenn jemand allein auf einer Parkbank saß und von der Polizei behelligt wurde, da hätten wir Medien vielleicht sagen sollen, jetzt mal halblang?

Wir alle haben solche Erfahrungen gemacht. Aber wenn es die eigene Gesundheit betrifft oder die Gesundheit der Familie, dann urteilt man über die Dinge anders als über etwas Abstraktes. Da spielen Ängste und Sorgen eine Rolle, und da sind wir Journalisten auch Menschen, wir haben genauso unsere Sorgen um die Gesundheit wie andere Menschen auch und sind da besonders sensibel und empfindlich.

In der Corona-Zeit ist die Kluft zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und dem Internet, den sozialen Medien, größer geworden, mitunter fast unversöhnlich. Deutschlandradio hat jetzt von der Politik zu hören bekommen, Ihre Sender sollen sparen und nicht weiter ins Internet investieren. Was machen Sie nun?

Es gibt widersprüchliche Signale aus der Politik. Im Staatsvertrag und auch vom Bundesverfassungsgericht gibt es den klaren Auftrag: Ihr Öffentlich-Rechtlichen müsst stark in die digitale Welt. Da sind die Menschen unter 40 Jahre, und die müsst ihr erreichen. Das haben die Länder auch einhellig so gesagt. Zugleich aber haben die Länder bei der Finanzierung gesagt, dafür gibt es nicht mehr Geld, das müsst ihr aus euren Etats für das alte Radio machen. Wir stehen aber bei unseren Hörerinnen und Hörern im Wort. Wir haben wunderbare Reichweiten bei unseren drei Programmen. Um in der digitalen Welt wirksam zu werden, müssen wir umschichten und umbauen. So nehmen wir manche Podcasts nun auch ins lineare Programm. Unsere Konkurrenz sind nicht die Verlage, sondern die großen globalen Medienriesen.

Dann könnten Sie eine Weisung erteilen, nichts mehr bei X oder YouTube zu posten?

Wir sind bei Twitter ausgestiegen, weil dort die Spielregeln nicht mehr gestimmt haben. Bei Spotify beispielsweise stimmen die Spielregeln noch, daher sind wir dort weiter vertreten.

Aber Sie liefern damit doch Ihren Content gratis an die globalen Konzerne und müssen nach deren Regeln spielen?

Wir erreichen damit Altersgruppen, die wir mit dem klassischen Radio nicht erreichen, die aber sehr genau wahrnehmen, dass es unsere Formate sind. Darauf wollen wir nicht verzichten, aber wir schauen ganz genau, ob wir fair behandelt oder ausgenutzt werden.

Sie waren viele Jahre Chefredakteur des MDR. Was können die Sender vom Osten lernen?

Was ich sehr stark gelernt habe: dass ich als Journalist wieder neugieriger werden muss, dass ich noch mehr zuhören muss; und dass die Welt in Ostdeutschland nicht 1989 begonnen hat. Das Wissen über das Leben vor dem Mauerfall im jeweils anderen Teil Deutschlands ist weder im Osten noch im Westen besonders ausgeprägt.

Interview: Michael Maier

Update: in einer früheren Fassung des Interviews war in einer Antwort die Rede von Gregor Gysi, es muss jedoch Gabriele Gysi heißen. Wir haben die entsprechende Passage korrigiert.