Kommentar

Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus: Wie reif ist die deutsche Gesellschaft?

Die andauernden Ausschreitungen in Frankreich wirken wie ein Blick in den Abgrund. Und wo stehen wir? Warum es Grund zur Hoffnung gibt. Ein Kommentar.

Schäden im französischen Lyon nach Krawallen
Schäden im französischen Lyon nach KrawallenLaurent Cipriani/AP

Die schweren Unruhen im Nachbarland Frankreich und die vielen Bilder und Videos, die von dort übertragen werden, erschrecken auch hierzulande. So kann es also aussehen, wenn eine Minderheit in der Bevölkerung sich dauerhaft unterdrückt, durch rassistische Vorurteile stigmatisiert und strukturell benachteiligt sieht.

Bevor wir uns aber gleich wieder selbst entlasten mit dem Hinweis, dass die gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland andere seien, sollten wir einen Moment innehalten. Sind wir wirklich an einem so anderen Punkt?

Angesichts von knapp zweieinhalbtausend erfassten antisemitischen Vorfällen in Deutschland fällt es auch hier schwer, die Lage positiv zu sehen. Jüdinnen und Juden sind zuletzt sogar häufiger Opfer von extremen Gewalttaten geworden. Die Täter haben oft aus islamistischen oder rechtsextremen Motiven gehandelt. Auch Verschwörungsglaube spielte eine Rolle. Und die Zahlen sind hoch, fast 30 Prozent höher als vor drei Jahren.

Das Ganze lässt sich noch steigern. Denn auch Muslime klagen über eine Zunahme von Übergriffen. Wer dann noch Ferda Ataman, der Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung, zuhört, kann jede Hoffnung auf Besserung verlieren. Noch nie sind so viele Vorfälle wegen Diskriminierung gemeldet worden wie im vergangenen Jahr.

Und trotzdem sind die Verhältnisse hierzulande ja tatsächlich vollkommen andere als in Frankreich. Es gibt sogar Anhaltspunkte für einen gesellschaftlichen Wandel. Um den zu erkennen, muss man allerdings genau hinsehen.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Denn es liegt eine harte Woche hinter uns. Gleich drei Stellen, die sich mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung beschäftigen, stellten ihre Jahresbilanzen vor: die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus RIAS, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung und die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit Claim.

Alle drei Beobachtungsstellen trugen unisono Verheerendes vor: Die Zahlen sind hoch, höher als in früheren Jahren, und die Beispiele sind bestürzend. Da werden Hijab tragende Frauen mit dem Tod bedroht. Es gibt Überfälle auf Synagogen. Fremdländisch aussehende Menschen werden mit Affen verglichen, Transgender als psychisch gestört bezeichnet und Menschen über 50 bekommen einfach keinen Job mehr angeboten.

Nichts davon hat irgendeine Berechtigung, und wenn die Zahlen in solchen Bilanzen steigen, ist das alarmierend. Auch wenn mehr Fälle nicht gleich mehr Rassismus und Diskriminierung in der Gesellschaft bedeuten, sind die besonders schlimmen Gewalttaten, der Hass im digitalen Raum und die vielen alltäglichen diskriminierenden Begebenheiten, von denen nur ein Bruchteil eine größere Öffentlichkeit erreicht, ja konkret. Die antisemitischen Auswüchse in Kunst und Kultur kommen noch dazu: die Documenta in Kassel etwa, die Konzerte von Roger Waters.

Wir können all das nicht tolerieren und müssen immer wieder einfordern, dass staatliche Stellen dagegen vorgehen, dass Gesetze so gefasst werden, dass sich Betroffene wehren können, und dass Organisationen und Unternehmen wie Plattformbetreiber sich aktiv gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus stellen.

Was allerdings in all den Berichten über die beunruhigenden Zahlen in den Hintergrund tritt, ist eine gegenläufige Strömung in der Gesellschaft. Man erkennt sie in den Äußerungen der zuständigen Bundesbeauftragten.

So sieht zum Beispiel Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, konkrete Verbesserungen. Vor fünf Jahren habe es noch keine Debatte um Roger Waters in Deutschland gegeben, obwohl er auf seinen Konzerten Luftballons in Schweineform platzen ließ, aktuell gibt es staatsanwaltliche Ermittlungen in Berlin wegen Volksverhetzung. Es gab Demonstrationen. Frankfurt/Main versuchte Konzerte zu untersagen. Klein bringt das zu dem Schluss, dass die Demokratie in Deutschland wehrhafter werde.

Ins selbe Horn stößt auch Ferda Ataman. Sie verzeichnet Rekordzahlen in den Beratungsstellen. Sie zieht daraus den Schluss, dass sich immer mehr Menschen über ihre Rechte informieren und diese auch einfordern. Ataman erkennt darin eine gesellschaftliche Reife und einen Fortschritt.

Gesellschaftliche Reife klingt gut. Natürlich nur, solange wir uns nicht auf einer solchen Erkenntnis ausruhen. Der Blick nach Frankreich in diesen Tagen sollte uns als Warnung dienen.