Berlin-Am Eingang zum Sowjetischen Ehrenmal am Treptower Park ist die Freude – und auch die Erleichterung – groß. Die sechs Demonstranten, die vor dem mit Hammer und Sichel bedeckten Tor mit ukrainischen Fahnen und Protestplakaten stehen, waren eigentlich gekommen, um eine Gegendemonstration gegen den für heute geplanten prorussischen Autokorso abzuhalten. Erst kurz vor Beginn ihres Protestes erfuhren sie, dass es diesen nicht mehr geben würde. Der Korso wurde von seinen Organisatoren abgesagt.
Guten Morgen,
— Polizei Berlin (@polizeiberlin) April 24, 2022
hier eine wichtige Info an alle, die sich bereits auf dem Weg zu einer Demo in #Marzahn befinden:
Der #Autokorso, der dort um 11:00 Uhr in #Ahrensfelde starten sollte, wurde von der Versammlungsleitung abgesagt.#b2404
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„Das ist natürlich ein großer Erfolg“, so der Demonstrant Jens Bortnowsky. Er trägt ein Plakat mit den Worten: „Russian war criminals, follow the Moskva! Go fuck yourself!“ – eine Anspielung auf das kürzlich gesunkene russische Militärflaggschiff und den inzwischen bekannten ukrainischen Kriegsslogan. Für ihn und die anderen Demonstranten symbolisiert die Absage einen Sieg für alle Gegendemonstranten. „Wir freuen uns sehr, dass wir das geschafft haben“, so Sebastian, der Organisator der Aktion, der seinen Nachnamen nicht nennen will. „Der gemeinsame Widerstand hat sich durchgesetzt. Hoffentlich ist das ein Zeichen, dass auch in anderen Städten gespürt wird.“
Seine Mitdemonstrantin Natalia Evramenko freut sich ebenfalls über die Absage. Sie ist Ukrainerin, kommt aus Charkiw im Osten des Landes und ist jetzt seit einem Monat in Berlin. „Das ist natürlich super, dass er nicht mehr stattfindet“, sagt sie über den Autokorso. „Meine Stadt wird derzeit von Russland bombardiert, also solche Aktionen zu sehen tut mir sehr weh. Jeder in meiner Situation kann nur so von diesen Szenen bewegt sein.“ Jetzt fühlt sie eine große Erleichterung, versteht nicht, warum es immer wieder zu einer Demonstration dieser Art gekommen war.
Mehr Polizei als Demonstranten
Die geplante prorussische Aktion wäre der zweite Autokorso ihrer Art gewesen: Als am 3. März geschätzt 900 Autos als Teil eines Autokorsos durch ganz Berlin fuhren – mit Halt am Sowjetischen Ehrenmal, wo die Demonstranten Blumen niederlegten und sowjetische Kriegslieder aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sangen –, war die Empörung groß. Viele, einschließlich des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, konnten es kaum glauben, dass die laute Aktion, bei der praktisch jedes teilnehmende Fahrzeug eine russische Fahne trug, an dem Wochenende stattfinden durfte, als Bilder erschütternder Gräueltaten der russischen Armee gegen Zivilisten im Kiewer Vorort Butscha rund um die Welt gingen.
Dieses Mal waren vier Gegendemonstrationen angekündigt; die Szenen des ersten Autokorsos haben offenbar viele zum Handeln bewegt. Die Kundgebung am Treptower Park war nur eine davon, auch in Ahrensfelde, dem Ausgangspunkt der geplanten prorussischen Aktion, und auf dem Alexanderplatz versammelten sich Gegendemonstranten. Offenbar hatte die Polizei damit gerechnet, dass die Stimmung zwischen den gegnerischen Protestparteien angespannt sein könnte: Vor dem Tor zum Sowjetischen Ehrenmal stehen drei Polizeiwagen, in denen mehr Polizisten sitzen, als es Demonstranten gibt.
Doch die Demonstranten bleiben für die Dauer ihres erklärten Protests vor dem Tor, um ein anhaltendes Zeichen zu setzen. „Es muss mit der Lügerei aufhören“, sagt der Demonstrant Stefan, der eine große ukrainische Fahne auf einer vier Meter hohen Stange schwenkt, die schon aus mehreren Metern Entfernung in der Puschkinallee zu sehen ist. „Es gibt so viel Desinformation, dass die Ukrainer alle Ultranationalisten seien, dass die Regierung in Kiew aus Nazis besteht. Wir setzen uns gegen diese Propaganda zur Wehr.“
„Wir sind nicht gegen Russen, sondern gegen Putinisten“
In einem Videobeitrag des angeblichen Veranstalters des für heute geplanten Autokorsos, wurde von Mord- und Gewaltandrohungen als Grund für die Absage des Konvois gesprochen. In seinen Kreisen weiß der Gegendemo-Veranstalter Sebastian von keinen solchen Bedrohungen; er kann sich nicht vorstellen, dass auch die anderen Gegendemonstranten solche Aktionen vorhätten. Seine Absicht mit der Aktion war es, den Durchgang der Teilnehmenden des prorussischen Autokorsos zum Sowjetischen Ehrenmal zu verhindern. Beim ersten Autokorso ließen die Demonstranten ihre Autos in der Puschkinallee stehen, während sie zum Mahnmal gingen, so Sebastian, und versperrten die Straße für den übrigen Verkehr, einschließlich Rettungsfahrzeuge. „Dieses Mal wollten wir mehr Gegenstand leisten“, sagt er. „Ich habe auch ganz ausdrücklich in meinen Aufrufen zu diesem Protest geschrieben, dass wir nicht gegen die Russen sind, sondern gegen die Putinisten, die diesen Angriffskrieg unterstützen.“

In dem Video des angeblichen Konvoi-Organisators heißt es auch, der Autokorso werde jetzt nur verschoben bis nach dem 8. und 9. Mai – in Deutschland der Tag der Befreiung bzw. in Russland der Tag des Sieges, der das Ende des Zweiten Weltkriegs feiert. An diesen Tagen wird mit Spannungen und möglichen Zusammenstößen zwischen russischen und ukrainischen Gruppen gerechnet. Sebastian geht davon aus, dass er an der Planung einer weiteren Gegendemonstration am 9. Mai für den Frieden und zur Unterstützung der Ukraine beteiligt sein wird.


