Ich komme aus Belarus. Bei den Protesten nach den Wahlen 2020 war ich in Minsk auf der Straße, im Oktober 2020 bin ich dann nach Berlin gekommen, um zu studieren. Der Krieg in der Ukraine fühlt sich für mich sehr nah an, denn zu den Nachbarländern von Belarus habe ich in meinem Leben viele Verbindungen geknüpft. Ich war oft in der Ukraine und habe viele Freunde dort. Fast in jeder belarussischen Familie gibt es Verwandte, die entweder aus Russland oder der Ukraine stammen. Die Geschichte der Sowjetunion ist sehr präsent. Vor allem in der älteren Generation, denn wir waren ein Land.
Zu Beginn des Krieges, im Februar, bin ich depressiv geworden. Die Situation in Belarus wird immer schlechter. Ich war also schon ziemlich niedergeschlagen. Und als Russland die Ukraine angegriffen hat, ist meine Stimmung noch tiefer gesunken. Es kam so unerwartet und war ein heftiger Schlag. Ich habe als Freiwillige am Hauptbahnhof geholfen und gedolmetscht. Leider hat das meine Stimmung nicht verbessert. Ich war so kraftlos.
Meine Freunde aus Belarus und ich waren uns sicher, dass Russland das blitzschnell durchzieht. Wir glaubten, Europa würde sich „besorgt“ zeigen und das war’s – wie sie es auch während der Proteste in Belarus gemacht haben. Wir dachten, die Ukraine wäre zu schwach, um sich zu wehren und Europa würde sich schnell anpassen und den neuen Status quo akzeptieren. Und dann würde in der Ukraine dieselbe Macht herrschen, die in Belarus die Entwicklung gestoppt hat.
Das Wissen, dass diese Macht, die jetzt in Belarus herrscht, sich weiterverbreiten wird, das war schlimm für mich. Das Einzige, was mich aus der Depression geholt hat, war die Erkenntnis, dass Russland es diesmal nicht so leicht schafft. Obwohl die Ukraine viel kleiner ist, wehrt sie sich erfolgreich. Das ist mehr, als ich erwartet habe.
Ich denke, es gibt eine materielle Welt und eine immaterielle Welt. Die materielle ist die physische, in der die Bomben fallen, zur immateriellen Welt gehören die Werte. Zulassen, dass sich die russische Macht und vor allem auch deren Denkweise verbreitet, um Krieg zu vermeiden – ich weiß nicht.
„Die Sanktionen sind für mich okay“
Die militärische Verteidigung macht Sinn. Es geht nicht nur um Land im Sinne von Territorien, Land ist ein geistiger Raum, in dem du die Ordnung durchsetzt, die dir passt. Das ist für die Ukrainer:innen der einzige Weg, um ihre politische Zukunft selbst zu bestimmen. Russland über die Ukraine herrschen zu lassen, wäre ein Rückschritt. Deswegen denke ich, die Ukrainer:innen machen das Richtige, und ich bewundere sie sehr. Auch die ukrainische Regierung, zumindest im Allgemeinen.
Ich glaube, wie Deutschland jetzt handelt, ist ziemlich gerecht. Deutschland liefert Waffen, aber schickt keine Soldaten in den Tod. Für mich ist das die sinnvollste Politik. Das Problem ist, dass Deutschland und verschiedene andere Länder sehr langsam dazu gekommen sind. Sie haben zuerst versucht, überhaupt keine Waffen zu schicken, nur die Geflüchteten aufzunehmen und medizinische Hilfe zu leisten. Und das ist eine Politik der Konfliktvermeidung.
Deutschland hat aus Angst so gehandelt. Es ist nicht die Angst vor Russland, obwohl Russland sehr beängstigend sein kann. Sondern die Angst vor Vorwürfen. Wenn du etwas tust, dann trägst du dafür die Verantwortung, wenn du nichts tust, bist du sicher. Jetzt hat sich die Politik zwar verbessert, aber ich denke, man kann noch mehr machen, ohne Soldaten zu schicken.
Die Sanktionen sind für mich okay. Ich habe die Gasrechnung noch nicht bekommen, aber es betrifft mich natürlich. Und ich kann mir vorstellen, dass es für die Menschen in Russland noch heftiger ist.
Dazu kommt, dass Belarus in diesem Krieg Russlands Verbündeter ist. Besonders betroffen sind die Menschen, die nach den Protesten in Belarus in die Ukraine ausgewandert sind. Nach ein bis zwei Jahren mussten sie wieder flüchten. Für die europäischen Staaten sind diese Geflüchteten aber nicht ukrainisch genug, um sie zu unterstützen. Ich kenne eine Frau, die jetzt gefragt wird, warum sie nicht zurück nach Belarus will. Sie muss beweisen, dass sie an Protesten teilgenommen hat und dass das für sie gefährlich wäre.
Diese Gefahr haben plötzlich alle vergessen, Belarus ist nur noch der Kriegskamerad von Russland. Die Ukrainer:innen und auch die Russ:innen, die flüchten oder sich gegen das Regime gewehrt haben, werden unterstützt. Aber die Belaruss:innen nicht so sehr. Das ist aus meiner Sicht problematisch.


