Wenn das keine Ironie der Geschichte ist: Die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel tritt zurück, weil sie Beruf und Familie nicht miteinander vereinbaren kann. Man könnte lachen, wenn es nicht ein Anlass zum Weinen wäre. Für die deutsche Gesellschaft ist dies wohl der bitterste Umstand im Zusammenhang mit der Causa Spiegel. Im Jahr 2022 kann eine Frau in einer Führungsposition in diesem Land ihre Familie nicht auf dieselbe Stufe wie ihre berufliche Tätigkeit stellen. Sie hat ihren Job zu machen, und zwar in erster Priorität. Nur das ist Leistungsbereitschaft. Familie ist nämlich Privatleben.
Es gäbe noch vieles zu sagen im Zusammenhang mit Anne Spiegel. Da wäre der Irrsinn mit den zwei Ministerämtern. Dann die Tatsache, dass in erster Linie ja wohl das Innenministerium in der Flutkatastrophe im Ahrtal verantwortlich war und Fehler gemacht hat. Seltsam, dass mit Spiegel nach Ursula Heinen-Esser aus Nordrhein-Westfalen aber jetzt schon die zweite Umweltministerin wegen unpassender Urlaube zurückgetreten ist, nicht aber die Innenminister der betroffenen Länder. Es ist auch mit Spiegels Umfeld etwas nicht in Ordnung, wenn Abwesenheiten von Kabinettssitzungen zur Presse durchgestochen werden.
Trotzdem bleibt natürlich, dass sie unaufrichtig war. Und schlussendlich hat sie ihre vollkommene Überforderung selbst in einer Pressekonferenz so vorgeführt, dass einem der Atem stockte. Anne Spiegel hat sich selbst versenkt.
Bittere Realität im 21. Jahrhundert
Das ändert allerdings nichts am Ausgangspunkt. Anne Spiegel hat vier Kinder, zum Teil noch klein, und einen kranken Mann, dem sie die familiären Probleme nicht alle überlassen kann. Sie hat sich weggestohlen in den Urlaub mit ihrer Familie, weil sie dort dringend gebraucht wurde – als Mutter und Ehefrau. So hat sie es gesagt, und es gibt keinen Grund, das anzuzweifeln. Es erscheint vielmehr absolut glaubwürdig, denn es ist die bittere Realität, dass sich Frauen im 21. Jahrhundert in Deutschland wegstehlen müssen vom Job, um sich in angemessener Weise um ihre Familie kümmern zu können. Und zwar jeden Tag. Nicht nur wenn Flut ist.
Jeden Tag haben kleine Kinder irgendetwas anderes, um das man sich dringend kümmern muss. Sie haben Schnupfen und Fieber, Ausschläge, Brechanfälle, Trotzphasen, schlaflose Nächte. Keine Kita nimmt ein hustendes, spuckendes Kind. Alle drei Wochen müsste man sich in den Wintermonaten krankmelden, um sein Kind zu betreuen. Hat man mehrere, wechseln die sich ab.
Sind die Kinder gesund, kann man sie nicht rund um die Uhr fremdbetreuen lassen. Sonst werden sie seltsam, stottern, pinkeln ins Bett oder in die Hosen, boykottieren die Schule, piesacken ihre Freunde. Der Kindergarten schließt um 17 Uhr, vollkommen egal, ob dann noch Arbeit zu erledigen wäre. Die letzten zwei Stunden sind die Kinder dann schon sehr einsam mit den Erzieherinnen, denn ordentliche Mütter holen ihre Kinder um 15 Uhr ab. Über Kuchenbacken für den Schulbasar, Elternabende, Bastelnachmittage, Kindergeburtstage und andere Anforderungen seitens der Einrichtungen haben wir jetzt noch nicht gesprochen. Auch nicht übers Kochen, Putzen, Keksebacken, Wäschewaschen, den Familienausflug, das Flötenkonzert.
Natürlich können sich Paare diese Familienarbeit teilen, auch wenn immer noch die Frauen den größten Teil bewältigen. Aber die Paare müssen sich selbst organisieren. Strukturen, die sie unterstützen, gibt es kaum. Wo sind sie denn, die Betriebskindergärten, die geteilten Führungspositionen und vor allem der Wunsch in der Gesellschaft, Familienzeit in den Job zu integrieren, wie es in Skandinavien vollkommen normal ist?
Familienfreundlichkeit ist eine Lüge
Verbreitet ist vielmehr eine ganz andere Haltung: Familienarbeit ist keine Leistung. Das macht man nebenbei. Leistung wird im Beruf erbracht. Dort ist man präsent, kreativ, am besten führungsstark und allzeit bereit. So sehen es sogar Frauen und nicht nur Chefs. Jeden Tag fallen abwertende Sätze. Du kannst doch nicht schon wieder fehlen, nur weil deine Gören Schnupfen haben. Kann das nicht dein Mann machen? Junge Frauen wollen heutzutage doch gar nicht richtig arbeiten, warum sonst arbeiten sie in Teilzeit.
Familienfreundlichkeit ist eine Lüge. Deutschland ist familientechnisch zurückgeblieben, bildet sich aber ein, modern zu sein. In Wirklichkeit sind Beruf und Familie nur zulasten der Eltern vereinbar – eine Überforderung.
Und so flüchten sich vor allem Mütter in die Unaufrichtigkeit. Sie tun so, als seien sie allzeit bereit, fahren während der Arbeitszeit das Kind zum Arzt oder zum Turnen, ohne etwas zu sagen. Nur um nicht aufzufallen und als arbeitsscheu und leistungsschwach einsortiert zu werden und gleichzeitig dem Kind und dem Klischee der sorgenden Mutter gerecht zu werden.


