Der Journalist Hanns Joachim Friedrichs hat einmal zwei wichtige Sätze gesagt, die viele Journalisten geprägt haben und auch für mich immer noch wegweisend sind. Er sagte, was Journalismus in seinem Sinne leisten müsse: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, dass die Zuschauer dir vertrauen (…) und dir zuhören.“
Diese Sätze sind mit eine Erklärung, warum sich die Redaktion der Berliner Zeitung unter meiner Leitung dazu entschlossen hat, Viktor Orbán zum Gespräch zu laden, den Ministerpräsidenten Ungarns. Eines EU-Landes, das eine wichtige Stimme Osteuropas repräsentiert, eines Landes, das an die Ukraine grenzt und ohne dessen Stimme sowohl die EU-Sanktionspolitik gegen Russland als auch weitere Maßnahmen im Kampf gegen den russischen Ukraine-Krieg nicht möglich wären – Stichwort Einstimmigkeit in der Außenpolitik.
Große Unkenntnis über Osteuropa
Der Verleger der Berliner Zeitung, Holger Friedrich, führte das Gespräch gemeinsam mit Alexander Marguier vom Cicero. Heute, am Tag nach der Veranstaltung, bin ich noch einmal mehr davon überzeugt, dass diese Entscheidung richtig war. Viktor Orbáns Positionen zu hören, 80 Minuten lang in die Gedankenwelt, in die Argumentationslogik des radikal-christlich geprägten Politikers einzusteigen, die Motive hinter Orbáns Handeln in einer konfrontativen und kritischen Gesprächssituation zu ergründen versuchen, war für mich erkenntnisreich, überraschend und, ja, auch „fruchtbar“ – um die Worte von Bundeskanzler Olaf Scholz nach dessen Gespräch mit Orbán zu benutzen. Ich bekam als Zuhörer eine weitere Möglichkeit, mein Nachdenken über die geopolitischen Herausforderungen der Zukunft zu schärfen.
Wir leben in einem Klima, in dem Journalismus von vielen als Mittel dafür verstanden wird, sich dem Zweck einer Agenda zu verschreiben, ja, im Sinne des Guten selbst Politik zu betreiben. Und nicht dafür, vor allem der Informationsvermittlung zu dienen, dafür zu sorgen, dass sich Empfängerinnen und Empfänger mit möglichst vielen Positionen vertraut und sich ein vollständiges Bild davon machen können, wie die Wirklichkeit ist – auch wenn letztere den Journalisten nicht gefällt.
Sehen und hören Sie das komplette Gespräch als Video
Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass gerade mit Blick auf Osteuropa die Meinungsbildung in Deutschland oft weniger auf Erkenntnissen, sondern mehr auf Gefühlen und Vermutungen basiert. Zudem fußt Journalismus über Osteuropa oft auf einem groben Unverständnis der besonderen Geschichte des Ostens, die in Deutschland stärker aufgearbeitet werden müsste. Anstatt sich mit dieser speziellen Geschichte zu konfrontieren, ist in vielen journalistischen Redaktionen eine Art pädagogischer Imperialismus eingedrungen, der oftmals blind bleibt für Nuancen.
Die Positionen des ungarischen Ministerpräsidenten sind kontrovers
Ich habe dank unseres Orbán-Gesprächs erfahren, wie groß die Bedrohung der ungarischen Minderheit durch russische Bomben in der Ukraine ist. Orbán mutmaßt, der Angriff Russlands auf die Ukraine hätte schon 2014, während der Krim-Krise, stattfinden können, wäre da nicht Angela Merkels Verhandlungsgeschick gewesen, das aus Sicht Orbáns damals Schlimmeres verhinderte. Auch Orbáns umstrittener „Ungarn First“-Ansatz wurde bei der Diskussion mehr als deutlich.

Ohne Frage: Die Positionen des ungarischen Ministerpräsidenten sind kontrovers, seine Politik ist minderheitenfeindlich. Aber seine Positionen spiegeln vielfach die Haltung eines großen Teils der Bürger der Europäischen Union wider. Auch seine Forderung nach einer Feuerpause in der Ukraine hat Rückhalt in Europa – „egal, was die Ukrainer darüber denken“, wie Orbán es formulierte. Mit diesen Positionen muss man sich auseinandersetzen, wenn man ernsthaft über das, was gerade politisch in Europa passiert, informiert sein und seine eigenen Schlüsse ziehen will.
Man muss Fragen stellen, um Antworten zu bekommen
Wichtig ist aber auch, dass bei solchen Gesprächen nicht nur Gäste und Moderatoren, sondern auch die Gesprächspartner selbst zuhören müssen. Das ist eine Chance. Holger Friedrich erinnerte Orbán daran, dass die EU nur dann stark sei, wenn sie ihre Kräfte bündelt – und fragte, ob nicht Ungarn die europäische Position insgesamt schwäche, wenn das Land immer nur auf die eigenen Interessen schaut. Orbán sagte, dass Joe Biden durch seine Russlandpolitik keinen Friedensvertrag mehr verhandeln könne und dass eher ein wiedergewählter Donald Trump Ruhe nach Europa bringen würde. Daraufhin Friedrichs Kommentar: „Als DDR-Sozialisierter habe ich so meine Erfahrungen mit Politikern, die sich von ihren Ämtern nicht lösen können.“ Alexander Marguier wies darauf hin, dass ein Frieden vor allem mit der Ukraine verhandelt werden müsse.
Das Gespräch barg auch die Chance, jenseits des Zuhörens Orbán daran zu erinnern, dass Ungarn selbst, wie es Friedrich formulierte, 30 Jahre lang die Solidarität der Europäischen Union erfahren hatte. Folgerichtig lautete die Frage an Ungarns Staatschef, ob es nicht geboten sei, in den politischen Konzepten der Zukunft „Freiheit und Gleichheit“ zu stärken und „Minoritäten, ob nun sexueller, geografischer oder wirtschaftlicher Natur“, eine Solidarität spüren zu lassen, die auch die Ungarn so lange und intensiv erfahren hätten? Demzufolge müsste jetzt die Ukraine genau diese Solidarität von Ungarn erfahren – insbesondere mit Blick „auf den Zivilisationsbruch der Russen, einen politischen Wettbewerb mit Gewalt lösen zu wollen“. Sei es nicht ein Widerspruch, dass Orbán diese Solidarität jetzt bremse? Orban antwortete: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Das ist eine gute Frage.“
Orbán wich manchmal aus, antworte an anderer Stelle präzise, dann wieder ausweichend. Man muss Fragen stellen, um Antworten zu bekommen. Und auch das Ausweichen eines Gesprächspartners bietet eine Erkenntnis. Dinge erkennen, dafür steht Journalismus, dafür steht unsere Redaktion.




