Im Eingangsbereich der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin werden die letzten Kohlereste beseitigt. Klimaaktivisten hatten vor wenigen Stunden ihren Unmut zum Ausdruck gebracht, indem sie der selbsternannten Klimaschutzpartei Kohlebrickets vor die Tür warfen. Im Inneren des Gebäudes wird darüber nicht gesprochen. Jetzt gibt es wichtigere Themen – das Wahlkampfcamp der Grünen. Frisch getestet und mit ordnungsgemäß sitzender FFP2-Maske ausgestattet, betreten mehr als 30 Teilnehmer das Gebäude.
Die Heizung bleibt aus – die Fenster offen
Personen, die sich im Voraus nicht getestet haben, können dies vor Ort kostenlos nachholen. Sehen möchte das Ergebnis aber niemand, und sobald der Veranstaltungsraum betreten wird, verschwindet auch die Maske ganz schnell in der Jackentasche. Die Jacken bleiben dafür an, denn der Raum ist nicht beheizt. Alle Fenster sind weit geöffnet – die Aerosole müssen entweichen.
Der Wahlkampftrainer betritt die Bühne. Er ist schon richtig in Wahlstimmung, rührt erst mal kräftig die Wahltrommel und bereitet die Teilnehmer auf die bevorstehenden zwei Stunden vor. Rollenspiele, Argumentationstraining und die Bewältigung von kritischen Situationen stehen auf der Tagesordnung. Doch bevor es richtig losgeht, muss geklärt werden, wieso sich Personen im Alter von Anfang 20 bis Ende 70 in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen versammelt haben.
„Aus politischer Sicht ist diese Wahl totaler Mist“
Schließlich beginnt die Schulung: Zunächst fasst der Trainer die wichtigsten Fakten zusammen. In nur wenigen Wochen, am 12. Februar, wird die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin wiederholt und Bettina Jarasch kämpft um den Einzug ins Rote Rathaus. Den Wahlkampf sieht er aber eher als Belastung, weniger als Chance: „Das ist alles ein riesiger Aufriss. Das ganze Team war so froh, dass die Wahl vorbei ist, und jetzt müssen wir schon wieder ran.“ Nach dieser motivierenden Ansprache geht es los.
Die Teilnehmer stellen sich im Kreis auf, immer zwei Personen stehen einander gegenüber, der Trainer gibt von der Bühne aus Anweisungen. In 60 Sekunden soll jeweils eine Person dem Gegenüber davon erzählen, wieso er die Grünen wählt und für diese Partei im Wahlkampf aktiv ist. Eine der Teilnehmerinnen setzt an: „Ich bin für Klimaschutz, deswegen wähle ich die Grünen. Das ist auch ein gutes Totschlagargument am Wahlkampfstand.“ Die verbleibenden 55 Sekunden geht es auch weiterhin nur um Klimaschutz. Ein wichtiges Thema, aber überzeugt man potenzielle Wähler damit wirklich?
„Es geht nicht darum, dass wir Menschen von uns überzeugen“
Nach dieser ersten kurzen Einheit widmet man sich nun dem Haustürwahlkampf, und Situationen am Straßenstand werden simuliert. Währenddessen stellen die Teilnehmer Fragen: Wie beginnt man ein Gespräch am besten? Sollte Bettina Jarasch im Zentrum der Unterhaltung stehen oder sollten das die Grünen als Partei sein? Wann breche ich ein Gespräch ab?
Die Empfehlung des Wahlkampftrainers: Immer über den Klimaschutz sprechen und das Gespräch mit „das weiß ich nicht, aber Klimaschutz ist mir wichtig“ beenden. Letztlich gehe es in diesem Wahlkampf nicht darum, neue Wähler zu gewinnen, sondern die bereits vorhandene „grüne Basis zu aktivieren“. Einwände haben die Teilnehmer des Camps nicht, alle ziehen an einem Strang und lauschen gebannt den Wahlkampftipps.
Kritischen Fragen soll gezielt ausgewichen werden
Im nächsten Trainingsblock wird der Umgang mit kritischen Fragen geübt. Das Thema Lützerath oder die Kohlespuren im Eingangsbereich, die damit ja zusammenhängen, wurden bisher nicht erwähnt. Auch in Bezug auf Lützerath rät der Trainer den Teilnehmern zur Ausweichstrategie. Er schlägt folgende Antwort vor: „Ihr sagt dann einfach, dass ihr nicht so tief in der Debatte drin seid, aber Frau Jarasch sich zumindest in Berlin für den Klimaschutz einsetzen möchte.“ Die Unterhaltung solle am besten in eine positive Richtung gedreht werden, weg von den sich festklebenden Aktivisten und hin zu den Klimaschutz-Grünen.
Auch die vergangene Silvesternacht könnte der Ausgangspunkt für kritische Fragen sein, zumindest erkundigen sich die Teilnehmer danach. Der Trainer verweist nur darauf, dass diese Debatte „äußert komplex“ sei und sich die jeweilige Person schnellstmöglich aus der Situation befreien sollte. Und wie macht sie das bestmöglich? Indem sie den Klimaschutz anspricht.
Hausaufgabe: Argumentationskarten auswendig lernen
Wer nach diesen Instruktionen immer noch an seiner Argumentationsfähigkeit zweifeln sollte, der kann im Anschluss die sogenannten Argumentationskarten studieren. Das sind PDF-Dateien, in denen unterschiedliche Themen behandelt werden. Die Gliederung ist immer gleich. Erst wird die grüne Kernbotschaft in Bezug auf das jeweilige Thema dargelegt. Danach werden Erfolge aufgelistet und weitere Ziele, die in Zukunft erreicht werden sollen. Abschließend wird „Kritik an der Konkurrenz“ geübt. Die CDU kommt dabei gar nicht gut weg und wird als „Männerverein, der ideologisch immer noch im Kalten Krieg lebt“, beschrieben.
Zudem bestehe das Wahlprogramm nur aus Versprechen, biete aber kaum Lösungsansätze. Wobei auch in den Argumentationshilfen Dinge versprochen werden, zum Beispiel: „Obdachlosigkeit bis 2030 beenden und dafür eine Strategie entwickeln.“ Wie genau das geschehen soll, wird nicht erläutert. Zur SPD ist übrigens zu lesen, dass „der Schnellschuss des 29-Euro-Tickets die populistische Politik offengelegt“ habe.
Fazit: Wenig Inhalt, viel Selbstlob
Nach mehr als zwei Stunden kommt der Trainer zum Ende. Er wirbt für die nächsten Wahlkampfveranstaltungen, bringt die Termine dabei zwar durcheinander, aber die Teilnehmer applaudieren ihm trotzdem. Die Anwesenden sind davon überzeugt, dass die Grünen in Berlin die richtigen Ziele verfolgen. Sie stehen hinter Bettina Jarasch und dem Wahlkampfmotto: „Berlin: grün und gerecht.“
Langsam leert sich der Veranstaltungsraum. Einige verabreden sich für morgen Vormittag, sie werden in ihren Bezirken einen Wahlkampfstand betreuen und das Erlernte einem Praxistest unterziehen. Der Trainer bittet die letzten Teilnehmer zu gehen, er hat es eilig, muss seinen Zug zurück nach Thüringen bekommen. Den Wahlkampf wird er von zu Hause aus mitverfolgen. Seine Arbeit ist getan – jetzt müssen seine Tipps nur noch umgesetzt werden.
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