Die Wut der Bauern ist die Wut des ganzen Landes. Mehr als 70 Prozent der Bürger unterstützen die Proteste. Obwohl Traktorkolonnen ganze Städte lahmlegen, jubeln ihnen Passanten auf den Bürgersteigen zu. Geht es der Mehrheit um den Agrardiesel oder die Kfz-Steuerbefreiung? Nein, es geht um etwas Grundlegenderes, und viele Bürger sind froh, dass die Bauern sich trauen, diesem unheimlichen Gefühl, von der Regierung über den Tisch gezogen worden zu sein, Ausdruck verleihen. Ja, die Bauern gehen vordergründig gegen die Steuerbelastungen auf die Straße, aber eigentlich demonstrieren sie gegen ein System, das bei ihnen spart während es ansonsten das Geld zum Fenster rauswirft.
Tatsächlich hat die Ampel mit den Einsparungen den inoffiziellen Gesellschaftsvertrag einseitig aufgekündigt. Das ist ein wenig ironisch, denn der Bundeskanzler hatte dieses stillschweigende Übereinkommen zwischen Bundesregierung und Bürgern erst vor Kurzem so klar auf den Punkt gebracht, wie kaum jemand vor ihm. In seiner Regierungserklärung zu den Konsequenzen des Verfassungsgerichtsurteils über den illegalen Haushalt sagte Olaf Scholz an die Bürger gerichtet: „In Ihrem Alltag – hier und heute – ändert sich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts.“
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Stillschweigendes Einvernehmen seit Merkels Kanzlerschaft
Seit Angela Merkels Zeiten galt dieses ungeschriebene Gesetz: Ihr da oben könnt Eure Experimente machen, solange es uns hier unten nichts kostet. Wir sind mit vielem, was ihr macht, nicht einverstanden, aber solange es uns nicht berührt, na gut. Das war der Deal. Zum Beispiel beim Atomausstieg („unsere Energieversorgung ist sicher und bleibt günstig“) oder bei der Öffnung der Grenzen 2015 („Niemandem wird etwas weggenommen“) oder bei der Energiewende („kostet so viel wie eine Kugel Eis“) oder beim Bürgergeld („Arbeit lohnt sich weiterhin“). All diese Versprechen wurden am Ende gebrochen, manches war von Anfang an gelogen. Die Konsequenzen konnten mit viel Geld vom Bürger ferngehalten werden.
Doch mit den Einschnitten bei den Bauern nimmt die Regierung der arbeitenden Bevölkerung zum ersten Mal seit knapp 20 Jahren direkt etwas weg, obwohl Scholz ja erst jüngst das Gegenteil behauptet hatte. Und die Unzufriedenheit über all die anderen Täuschungen der letzten Jahre explodiert. Jetzt kommen die ganzen irren Ausgaben der Regierung auf den Tisch und Bürger fragen: Wieso wird bei uns gekürzt, wenn 47 Prozent der Bürgergeldempfänger Ausländer sind, warum zahlen wir Millionen für grüne Kühlschränke in Kolumbien, Gender-Training in Westasien und Klima- und umweltfreundliche Stadtentwicklung in der Zentralafrikanischen Republik? Wieso will der Bundeskanzler drei neue VIP-Helikopter im Wert von 200 Millionen Euro kaufen? Allein die Sanierungskosten der Komischen Oper in Berlin in Höhe von 487 Millionen Euro übersteigen die Einsparungen von 440 Millionen Euro beim Agrardiesel. Solange es mehr als genug für alle gab, waren die Deutschen bereit, zu teilen. Ein sympathischer Wesenszug.
Die Bürger schauen in die Bilanzen des Staates und erschrecken
Doch jetzt ist das Geld nicht mehr da, der Kreditrahmen ausgereizt und die Steuerzahler schauen zum ersten Mal genau in die Bilanzen ihrer Regierung. An sich ist das auch nichts Ungewöhnliches. Die Welt verändert sich, Deutschlands Wirtschaftsmodell ist durch den Wegfall billigen russischen Gases und einen schwindenden chinesischen Absatzmarkt für seine Produkte grundsätzlich infrage gestellt. Die fetten Jahre der Friedensdividende sind vorbei.
Der kapitale Fehler liegt in der Antwort der Ampel auf diese Veränderungen. Sie will den Gesellschaftsvertrag nicht neu aushandeln, sondern bittet die Bürger entgegen der Abmachung zur Kasse, während ihre Orchideen-Projekte unbeschnitten bleiben, Stichwort „Stärkung von afrokolumbianischen Gemeinderäten in den Bereichen Umwelt und Gender im Einzugsgebiet des San-Juan-Flusses, Departement Chocó“. Deutschland ist weiterhin das Land mit den meisten Betriebsauflagen für Landwirte in Europa, aber den Sprit müssen sie jetzt allein blechen.
Die Bauern sind die ersten, die unter dem gebrochenen Vertrag zu leiden haben. Aber sie werden nicht die Letzten sein. Das weiß die Mehrheit im Land und unterstützt die Demonstranten. Wir stehen vor Auseinandersetzungen über das, was jedem wirklich zusteht. Die Ampel hätte wissen müssen, was geschieht, wenn sie ihren Teil der unausgesprochenen Abmachung bricht. Aber in der Regierung sind sie nicht bereit, von ihren Lieblingsprojekten zu lassen. Dabei gilt in schweren Zeiten, wenn es materiell wenig anzubieten gibt: Auch Gesten helfen. Ein Stopp der Vergrößerung des Kanzleramts zum Beispiel oder weniger Visagisten für die Außenministerin, aber das müssen Scholz und Baerbock noch lernen – falls sie die Zeit dazu noch haben sollten.
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