Völkerrecht

Nach Butscha: Was genau ist ein Kriegsverbrechen?

Die Bilder aus Butscha in der Ukraine zeigen Leichen getöteter Zivilisten. Wir erklären, wie der Begriff Kriegsverbrechen definiert ist. Und wer darüber richtet.

Dieses von Maxar Technologies bereitgestellte Satellitenbild zeigt einen Überblick der zerstörten Häuser und Fahrzeuge in einer Straße in Butscha.
Dieses von Maxar Technologies bereitgestellte Satellitenbild zeigt einen Überblick der zerstörten Häuser und Fahrzeuge in einer Straße in Butscha.AP/Maxar Technologies

Es sind schockierende Bilder, die aus dem Kiewer Vorort Butscha um die Welt gehen: Nach dem Rückzug russischer Truppen wurden in den Straßen der Stadt unzählige Leichen getöteter Zivilisten entdeckt. Für die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, steht fest, dass es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt. „Die Bilder, die uns erreichen und zeigen, wie die Menschen hingerichtet wurden, lassen daran keinen Zweifel“, sagte die Grünen-Politikerin dem Fernsehsender Phoenix. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben bereits mehr als 7000 Meldungen über russische Kriegsverbrechen in der Region um Kiew registriert.

Was ist ein Kriegsverbrechen? Wer definiert das? Im juristischen Sinne sind Kriegsverbrechen schwerwiegende Verstöße gegen das sogenannte Humanitäre Völkerrecht (HVR). Das Humanitäre Völkerrecht, zu dem auch die Genfer Konventionen von 1949 gehören, zielt darauf ab, das Leid in bewaffneten Konflikten zu begrenzen, heißt es auf der Internetseite des Verteidigungsministeriums. Das HVR stellt quasi Regeln für den Krieg auf – es trägt einerseits „den militärischen Notwendigkeiten der Kampfführung“ Rechnung, andererseits will es auf die „Bewahrung des Prinzips der Menschlichkeit“ dringen.

Was bedeutet das konkret? Wer ist durch das Humanitäre Völkerrecht geschützt? Insbesondere geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung, denn nach diesen Regeln sind in Kriegen Angriffe „streng auf militärische Ziele zu beschränken“. Verboten ist es demnach, Zivilisten oder rein zivile Gebäude anzugreifen. Unter besonderem Schutz steht zudem Sanitätspersonal. Es ist aber auch verboten, Soldaten zu töten, sofern sie sich ergeben. „Willkürliche Tötungen“ stehen insgesamt auf der Liste der strafbaren Kriegsverbrechen ebenso wie Vergewaltigungen, Plünderungen und Folter.

Aber in Kriegen sterben jeden Tag Zivilisten. Wie kann das dann sein? „Das Kriegsrecht schützt Zivilisten nicht immer vor dem Tod“, erklärte Mark Kersten von der Munk School of Global Affairs and Public Policy an der University of Toronto, Kanada, einmal in einem Interview mit Deutsche Welle. „Nicht jeder tote Zivilist wurde zwingend widerrechtlich getötet.“ Zivile Opfer können das sein, was Militärs „Kollateralschäden“ oder „Verluste“ bei Angriffen auf militärische Ziele nennen. Zudem verlören Zivilpersonen ihren besonderen Schutzstatus, wenn sie an den Feindseligkeiten teilnehmen, erklärt das Bundesverteidigungsministerium. Sobald sich Zivilisten an den Kämpfen beteiligten, würden sie „zulässige militärische Ziele“ und könnten für die unberechtigte Teilnahme an Kampfhandlungen auch bestraft werden.

Wer darf an Kampfhandlungen teilnehmen, wer darf töten und getötet werden? Nur Soldaten sind laut HVR in einem Krieg berechtigt, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen. Sie werden „Kombattanten“ genannt und tragen im Normalfall Uniform, oft auch sichtbar eine Waffe. Dadurch sind sie von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Kombattanten „stellen für den Gegner auch selbst ein zulässiges militärisches Ziel dar und dürfen jederzeit bekämpft werden“, so das Verteidigungsministerium. Auf der anderen Seite dürfen Soldaten für rechtmäßige Kampfhandlungen, an denen sie im Auftrag ihres Staates teilgenommen haben, nicht bestraft werden.

Was sind rechtmäßige Kampfhandlungen? Auch wenn man es angesichts der Bilder von in Schutt und Asche gelegten Städten und bombardierten Wohnhäusern kaum glauben mag:  Erlaubt ist gemäß dem HVR einzig die Bekämpfung militärischer Ziele. Laut Bundesverteidigungsministerium gelten „als militärische Ziele nur solche Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren Zerstörung oder Inbesitznahme   einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt“. Der verantwortliche militärische Führer müsse vor einem Angriff den militärischen Charakter eines Zieles prüfen und alles praktisch Mögliche tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind.

Wie können Kriegsverbrechen bestraft werden? Für juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. Das Gericht kann nur über einzelne Personen richten, nicht über ganze Staaten. Angeklagt werden können einzelne Soldaten, aber auch deren Vorgesetzte.

Werden die mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine zu einem Prozess führen? Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, hat bereits Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der Ukraine eingeleitet und ein Team ins Kriegsgebiet geschickt. Die Ankläger müssen zunächst nachweisen, dass Kriegsverbrechen begangen wurden. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Opfer von Butscha tatsächlich wehrlose Bürger waren. Darauf deuten die Fotos hin, und das bestätigen Augenzeugen. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) dokumentieren Augenzeugenberichte und sammeln Fotos. Die Bilder und Aussagen würden von Experten überprüft und beispielsweise mit Satellitenaufnahmen, aber auch Social Postings verglichen, sagt Wenzel Michalski, der Deutschland-Chef der Organisation Human Rights Watch. Bundesjustizminister Marco Buschmann hat Flüchtlinge aus der Ukraine aufgerufen, Ermittlern in Deutschland Hinweise auf Kriegsverbrechen zu geben. „Das können Handyaufnahmen oder Zeugenaussagen sein, die bei der Polizei eingereicht werden können und vom Generalbundesanwalt ausgewertet werden“, sagte der FDP-Politiker dem Kölner Stadt-Anzeiger.

US-Präsident Joe Biden hat gefordert, den russischen Staatschef Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen. Ist das möglich? Dem russischen Staatschef müsste nachgewiesen werden, dass er von den Kriegsverbrechen wusste und dass er dafür verantwortlich ist – was schwierig werden dürfte. Erst wenn der Verdacht ausreichend begründet und mit Beweisen belegt ist, könnte ein internationaler Haftbefehl beantragt werden. Dass Russland den Präsidenten an Den Haag ausliefern würde, scheint aber ausgeschlossen. Zumal die russische Regierung 2016 ihre Zustimmung zum Strafgerichtshof widerrufen hat, angeblich weil der Gerichtshof ineffizient und einseitig arbeite. Die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda hat sich in jener Zeit mit der russischen Besetzung der Krim und den Kämpfen in der Ostukraine beschäftigt. Der Gerichtshof in den Niederlanden war 1998 durch das sogenannte Römische Statut gegründet worden, das von mehr als 120 Staaten getragen wird. Die Regierung in Moskau hat das Statut zwar im Jahr 2000 unterschrieben, allerdings hat das russische Parlament das Statut nie ratifiziert. Auch die USA und China haben das Statut nicht unterschrieben.