Lothar Wieler hat am Dienstag in der Bundespressekonferenz einen interessanten Satz gesagt. „Wir haben den Durchblick“, versicherte der Präsident des Robert-Koch-Institutes (RKI) auf einer Pressekonferenz. Da hat er vielen Bürgerinnen und Bürgern wirklich etwas voraus.
Im dritten Jahr der Pandemie hat sich die Corona-Politik der Regierung und der Bundesländer derartig zerfranst, dass die wenigsten auf Anhieb sagen können, was jetzt eigentlich gerade gilt – und vor allem warum. Mit Gesundheitsschutz haben viele neue Regeln nämlich gar nichts zu tun, sondern schlicht mit der Überlastung der Bürokratie. Nur ein Beispiel: In Berlin entfällt seit neuestem die Anwesenheitsdokumentation in der Gastronomie, das aber nur, weil das Gesundheitsamt die Kontakte sowieso nicht mehr nachverfolgen kann. Zu viele Fälle, zu wenig Personal. Die Verwaltung hat in diesem Punkt bereits aufgegeben.
Das ist allerdings harmlos gegen das, was sich gerade in Bayern abspielt. Dort soll geltendes Recht nicht umgesetzt werden, weil der amtierende Ministerpräsident das nicht mehr für notwendig und irgendwie auch für kompliziert hält. Es geht dabei um die Impfpflicht für Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Damit soll der Schutz der sogenannten vulnerablen Gruppen erhöht werden. Alle Ministerpräsidenten waren dafür, das Gesetz wurde im Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet, nur die AfD stimmte dagegen. Aber nun sagt der bayerische Landeschef, dass er es nicht mehr will. Auch der Vorsitzende der CDU möchte über die Impfpflicht gern noch mal neu nachdenken, wie er mitteilte. Das Gesetz, das die beiden Herren jetzt irgendwie nicht mehr so gut finden, tritt dummerweise in ein paar Wochen in Kraft. Was soll’s.
Wer hätte gedacht, dass man im dritten Jahr der Pandemie nicht den Bürgerinnen und Bürgern, sondern ausgewählten Spitzenpolitikern des Landes sagen muss, dass eine derartige Alles-egal-Haltung zynisch, dumm und gefährlich ist? Gefährlich vor allem deshalb, weil mit dieser Haltung, die allein taktischem Kalkül folgt, ein Grundkonsens der Pandemie aufgegeben wird. Wie soll man Menschen erklären, dass sie sich bitte auch aus Solidarität impfen lassen sollen, wenn das zugehörige Gesetz aus billigem parteitaktischem Eigennutz zur Disposition gestellt wird?
Seitdem der erste Lockdown vorbei war, gab es nie in allen Bundesländern komplett identische Corona-Maßnahmen. Aber es gab den sprichwörtlichen Strang, an dem alle gemeinsam zogen. Auch wenn die berühmt-berüchtigte Ministerpräsidentenkonferenz oft qualvoll lange dauerte und dafür dann blamabel wenige Ergebnisse präsentierte: Man setzte sich dennoch zusammen und bemühte sich zumindest nach außen, so etwas wie eine gemeinsame und gern auch sinnvolle Pandemie-Politik zu formulieren. Jetzt aber fällt die Fassade in sich zusammen. Die Politik ist am Ende, aber leider ist die Pandemie noch übrig.
Die FDP sägt derweil am Stuhl des RKI-Präsidenten
Karl Lauterbach, den die Entwicklung der letzten Monate vom Pandemie-Erklärer zum Bundesgesundheitsminister degradierte, bemüht sich sichtlich, weiterhin Kurs zu halten. Sein Credo lautet weiterhin, dass es für Lockerungen jetzt noch zu früh ist. Derweil fällt in einigen Bundesländern schon mal die 2G-Pflicht im Einzelhandel. Auch in Berlin.
Die FDP wiederum sägt am Stuhl des RKI-Präsidenten, der sich zwar auch ein paar Kommunikationspannen zuschreiben lassen muss. Mehr gepatzt als die Bundesregierung hat sein Institut aber auch nicht. Von dort hätte eigentlich ein Vorschlag für eine allgemeine Impfpflicht kommen müssen. Aber weil die Ampelkoalition dafür keine Mehrheit auf die Beine bringen kann, wurde das Ganze zur Gewissensfrage erklärt und der Fraktionszwang in der Sache aufgehoben. Nun wartet man hoffnungsvoll auf eine Sternstunde des Parlaments, aus dem heraus sich das Gesetz via Gruppenantrag materialisieren soll. Glaubt tatsächlich irgendjemand, dass das noch etwas wird?




