Im Berlin-Lichtenberg der frühen 90er-Jahre war das Leben besonders, ich kann mich daran noch deutlich erinnern. Daran, wie ich die Weitlingstraße entlanglief, kein Kind mehr, aber auch noch kein Jugendlicher. Vorbei am Schwarzmarkt, der nach der Wende von vietnamesischen Einwanderern geführt wurde. Im Angebot: Zigaretten und Plaste-Schlumpffiguren. Am Kiosk, direkt am Ausgang des U-Bahnhofs, gab es Groschenromane und die Coupé. Ein Magazin, das mit grausigen Geschichten über Hasenzucht und nackten Frauen viele Leser gewann, auch mich.
Meine Kindheit im Berlin der frühen 90er war wild. Brachliegende Grundstücke, auf denen heute Eigentumswohnungen wachsen wie giftige Pilze. U-Bahnen, bei denen ich während der Fahrt die Türen öffnen konnte, und Abenteuerspielplätze in leerstehenden Häusern im Prenzlauer Berg. Berlin war das Beste, das einem Kind passieren konnte.
Wir waren frei, und alle haben diese Freiheit nutzen können, weil wir keine Ahnung hatten, was Freiheit ist.
Ich erinnere mich an die ersten Westspielzeuge, an Computer und an den Wunsch meiner Eltern, umzuziehen. In einen anderen Bezirk.
Ich erinnere mich an Björn.
Björn, der mich in der Pause in die Mülltonne warf
Björn ging in meine Klasse und zeigte auf dem Schulhof einen Hitlergruß, Björn sprach von Juden. Björn erzählte vom Vergasen der Vietnamesen. Björn war ein Nazi, und viele andere auf dem Schulhof auch.
Björn warf mich in der zweiten Hofpause in eine Mülltonne. „Aus Spaß“, wie er später den Lehrern erklärte. Das gehörte dazu, zu den 90er-Jahren. Die „Baseballschläger-Jahre“ wird das heute genannt, Wirklichkeit nannte sich das früher. Neonazis erlaubten vielen Menschen in dieser Realität nicht, frei zu sein. Sie nutzten ihre Möglichkeiten, sich frei zu entfalten um andere zu verletzten, einzuengen, ja, um sie manchmal auch zu töten.
Ich erinnere mich an einen Tag, als die Nationale Alternative unter der Führung Michael Kühnens vom Dach in der Weitlingstraße Raketen auf Polizisten schoss. Meine Straße war am selben Abend in den Nachrichten.
Dabei waren wir doch jetzt alle frei? Warum musste sich diese Freiheit so gewalttätig anfühlen? Warum müssen Menschen Freiheit für Hass missbrauchen?
Natürlich habe ich mich das damals nicht gefragt, damals war wichtig, welches Lego-Set ich bekommen sollte, ob mein Bruder bereits alt genug war, um mit mir „Game Boy“ zu spielen. Damals hatte ich keine Angst vor Björn, ich habe davon nur erzählt. Am Abendbrottisch, in Lichtenberg.
Ich bin groß geworden zwischen Neonazis
Und meine Eltern wurden blass. Ich kann mich erinnern, wie sie mit mir darüber sprachen, was ein Nazi sei. Was ein Neonazi sei. Ich erinnere mich bis heute daran, wie mein Vater mich fragte, ob ich das interessant fände, was mein Mitschüler Björn da erzählen würde. Und ich habe das verneint.
Meine Eltern sind mit meinem Bruder und mir nach Oranienburg gefahren, gleich am nächsten Wochenende. Sie haben uns gezeigt, was Nazis sind und was Menschen machen, wenn sie glauben, Juden müssten vergast werden. Menschen müssten umgebracht werden.
Ich bin groß geworden zwischen Neonazis. Und die meisten sind verschwunden, allerdings nicht alle. Auch auf dem Gymnasium gab es sie, dort waren sie stiller, trugen Bomberjacken, ließen sich einen Seitenscheitel stehen; die ersten Bärte, mehr ein Flaum, wurden zu einem Schatten unter der Nase.
Ich wollte mit 16 Kommunist sein, weil die Mädchen dort aufregender waren. Bei den Nazis gab es nur Bier und Männer, das fand ich uninteressant.
Ich wollte kein Nazi sein, weil ich richtig erzogen wurde. Weil Naziwerden immer ein Produkt des sozialen Umfelds ist. Immer. Björns großer Bruder, er hing in der Weitlingstraße ab. Und Björns großer Bruder vergiftete einen halben Stadtbezirk.
Hubert Aiwanger sei als Erwachsener kein Antisemit mehr, ich glaube ihm das nicht. Das ist mein Recht. Aber die große Frage ist: Wie wurde er erzogen, dass er so werden konnte, wie er heute ist? Was glaubt er noch, was bespricht er heute am Abendbrottisch? Was wurde früher, am elterlichen Abendbrottisch, besprochen? Bei uns waren es die Baseballschlägerjahre, was war es bei ihm? Mit 17 ist man kein Kind mehr, das kindliche Gedanken im Nebel des Erwachsenwerdens vergisst. Mit 17 hatte Hubert eine Weltsicht, Ideale und Vorstellungen, denen er folgte. Wie lange folgt Aiwanger seinen Idealen schon?




