Triumphzug der Taliban

Falsche Einschätzung, keine Strategie: Scharfe Kritik an der Bundesregierung

Die zuständigen Minister geraten angesichts des Desasters in Afghanistan in Erklärungsnot. Die Rettungsaktion für Deutsche und Ortskräfte steht unter Zeitdruck.

Ein Hubschrauber der USA vom  Typ Chinook überfliegt Kabul. Taliban-Kämpfer sind am Sonntag in die Außenbezirke der afghanischen Hauptstadt eingedrungen und haben das Land weiter unter ihre Kontrolle gebracht.
Ein Hubschrauber der USA vom Typ Chinook überfliegt Kabul. Taliban-Kämpfer sind am Sonntag in die Außenbezirke der afghanischen Hauptstadt eingedrungen und haben das Land weiter unter ihre Kontrolle gebracht. AFP/Wakil Kohsar

Berlin-Nach dem schnellen Vorrücken der islamistischen Taliban-Bewegung in Afghanistan gerät die Bundesregierung mit ihrer geplanten Rettungsaktion für deutsche Staatsangehörige und afghanische Ortskräfte der Bundeswehr in Zeitnot. Am Sonntag haben die Taliban faktisch auch die Macht in der Hauptstadt Kabul übernommen.

Ursprünglich sollten Kräfte der Bundeswehr am Montag in die afghanische Hauptstadt fliegen, um Evakuierungsmaßnahmen einzuleiten. Dies wurde nun auf Sonntagnacht vorgezogen. Außenminister Heiko Maas (SPD) teilte am Abend mit, dass das deutsche Botschaftspersonal in einen militärisch gesicherten Bereich am Flughafen Kabul verlegt wurde. Sie sollen in den nächsten Stunden ausgeflogen werden. Damit ist der vermutlich größte Evakuierungseinsatz der Bundeswehr angelaufen.

Die Opposition hat das Krisenverhalten der Regierung scharf kritisiert. Der außenpolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, sprach von einer „riesigen Kette von Fehlern“ der Regierung, die zu einer kompletten Fehleinschätzung der Lage und damit zu jetzigen verfahrenen Situation geführt habe. „Wir haben im Auswärtigen Ausschuss bereits im Jahr 2012 erstmals über die Lage der afghanischen Ortskräfte gesprochen“, sagte Nouripour der Berliner Zeitung am Sonntag. Immer wieder habe die Regierung versichert, man plane Evakuierungen. „Stattdessen hat die Regierung den Kopf in den Sand gesteckt“, so Nouripour.

Besonders Außenminister Heiko Maas (SPD) wird vorgeworfen, dass sein Ministerium die Lage offenbar völlig falsch eingeschätzt hat. Er hatte noch im Juni gesagt, er rechne nicht damit, dass die Taliban in Afghanistan schnell die Oberhand gewinnen. Am Abend teilte er mit, dass auch die afghanischen Ortskräfte ausgeflogen werden sollen. „Die Umstände, unter denen das erfolgt, sind aber schwer vorherzusagen.“

Der Krisenstab des Auswärtigen Amtes war am Freitag zu einer Sitzung zusammengetreten, um die Evakuierungen nun im Eiltempo vorzubereiten. 

Völlig unklar ist, wie viele afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und nun die Rache der Taliban fürchten, ausreisen können. Dazu gab es in den vergangenen Tagen widersprüchliche Angaben seitens der Regierung. Den Vorwurf, dass die deutschen Behörden das Angebot der US-Regierung ausgeschlagen haben, bedrohte Ortskräfte mit auszufliegen, bezeichnete das Auswärtige Amt als „Ente“.

Die Grünen-Abgeordnete Margarete Bause veröffentlichte dagegen am Sonntag auf Twitter eines anderslautende Antwort des Bundesinnenministeriums vom 5. August. Danach habe die Bundesregierung die Informationen zur Luftbrücke „zur Kenntnis genommen“. Man arbeite „an Optionen zur weitergehenden Unterstützung der zeitnahen und der Lage angepassten Ausreise von Ortskräften“. Man habe Vorkehrungen getroffen, Ortskräfte „im Rahmen der eigenverantwortlichen Ausreise im Bedarfsfall durch Bereitstellen von Flugtickets zu unterstützen“.

Vorwurf der Opposition: Regierung blieb untätig

„Diese Regierung ist am Ende“, sagte die FPD-Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann der Berliner Zeitung am Sonntag. Sie sei „zutiefst deprimiert über die Situation in Afghanistan“. Die Bundesregierung habe sich öffentlich nie damit beschäftigt, was passieren wird, wenn die Alliierten das Land verlassen. „Es war immer klar, dass die Bundeswehr abziehen wird, wenn die USA das Land verlassen.“ Immer wieder habe man im Bundestag gefordert, dass eine Exitstrategie für diesen Fall vorliegen müsse. Geschehen aber sei nichts. Für die Zukunft müsse geklärt werden, ob es Sinn mache, bei Auslandseinsätzen an dem Prinzip Ausbildung und Beratung festzuhalten, wenn gleichzeitig kein „nation building“ erfolge, so Strack-Zimmermann weiter. „Wir lernen entsetzt, dass die afghanischen Soldaten nicht bereit sind, ihr Land zu verteidigen.“ Innenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte den Afghanistan-Einsatz für gescheitert.

Allgemein wird nun mit einer Flüchtlingswelle aus dem Land gerechnet. Die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung ist bereit, Afghanen aufzunehmen, die vor den Taliban flüchten. Dieses Angebot beziehe sich zunächst auf die Ortskräfte, sagte der Sprecher des Innensenators, Martin Pallgen, der Berliner Zeitung am Sonntag. Berlin sei aber auch darüber hinaus aufnahmebereit. Konkrete Zahlen wollte er nicht nennen.