Kommentar

Franziska Giffey: Auf dem Weg zur Macht – nach Vorbild von Angela Merkel

Es ist ein historischer Wahlsieg: Franziska Giffey wird als erste Ostdeutsche die Stadt regieren. Um das zu schaffen, hat sie oft ihre Herkunft verborgen.

Franziska Giffey, 43, aus Frankfurt (Oder), vor Resten der Berliner Mauer. 
Franziska Giffey, 43, aus Frankfurt (Oder), vor Resten der Berliner Mauer. Paulus Ponizak

Berlin-Einen Tag nach dieser chaotischen, knappen Wahl in Berlin gibt es so viel zu diskutieren und auszuwerten, dass ein wichtiges Ergebnis fast untergeht, eine Sensation, wenn man so will: Berlin hat nicht nur das erste Mal in seiner Geschichte eine Frau zur Bürgermeisterin gewählt, sondern auch eine Ostdeutsche. Franziska Giffey, 43 Jahre alt, aus Briesen bei Frankfurt (Oder), ist die Siegerin dieser Wahl.

Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass es schon mal eine Regierende Bürgermeisterin in Berlin gab. Louise Schroeder übernahm 1947 nach dem Rücktritt von Otto Ostrowksi das Amt für anderthalb Jahre kommissarisch. Und natürlich kann man auch fragen, ob die Herkunft drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung überhaupt noch eine Rolle spielt. Wahrscheinlich würde Giffey das sogar selbst fragen. Sie ist nicht gerade dafür bekannt, eine große Kämpferin für die Rechte der Ostdeutschen zu sein. Viele ihrer Wähler wissen nicht einmal, woher sie kommt. Als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln thematisierte sie fast nie ihre Herkunft. Fragt man sie warum, sagt sie: „Da leben 150 Nationen, ich war eine von vielen.“

Aber wer sie ein wenig kennt, weiß, das ist nur die halbe Wahrheit. Vielmehr ist es so, dass es der ehrgeizigen Ostdeutschen selbst lange nicht bewusst war, wie stark sie von den Umbrüchen der Nachwendezeit geprägt war. Sie hatte einfach keine Zeit, darüber nachzudenken, ging nach dem Abi nach Berlin, studierte, wurde die jüngste Europa-Beauftragte und die jüngste Stadträtin Neuköllns, bekam einen Doktortitel, der ihr später wegen Plagiaten wieder aberkannt wurde, wurde Mutter, dann Bürgermeisterin im Bezirk - und schließlich, als Nachfolgerin von Manuela Schwesig, Familienministerin.

Im Wahlkampf schwärmte sie von Neukölln

Eine Ostdeutsche ging weg aus der Regierung, eine andere Ostdeutsche sollte folgen. Das war Giffey, die Frau aus Frankfurt (Oder). Man könnte sagen, erst dieser Karrieresprung hat sie auf ihre Wurzeln gestoßen. Sie war jetzt die Ostdeutsche, die Ostdeutschland erklären sollte, reiste durch Riesa, Chemnitz, Eisenhüttenstadt, hörte sich die Sorgen der Menschen an, begann, über ihre Eltern zu sprechen, die nach der Wende ihre Arbeit verloren hatten und mit Ende 30 nochmal von vorne anfangen mussten. Plötzlich erklärte sie, warum der Umbruch so schmerzhaft für so viele war, forderte die Angleichung von Renten und Löhnen und mehr Ostdeutsche in Führungspositionen.

Kaum war sie Bürgermeisterkandidatin in Berlin, war damit Schluss, verwandelte sich Franziska Giffey wieder in die Ostfrau ohne Herkunft, schwärmte von „meinen Neuköllnern“ oder berichtete von ihrer Arbeit als Familienministerin. Wenn sie im Wahlkampf überhaupt je ihr Ostdeutschsein thematisierte, dann nur, weil man sie direkt danach fragte oder weil sie Ängste von Westdeutschen zerstreuen wollte. Einmal versicherte sie Familienunternehmern, dass sie gegen die Enteignung von Wohnungsunternehmen sei, weil sie aus der DDR komme und sich noch gut an die grauen Städte erinnere, ein anderes Mal erinnerte sie an ihren Großvater, einen Tierarzt, dessen Praxis zu DDR-Zeiten verstaatlicht worden war. Und wechselte dann schnell wieder das Thema.

Franziska Giffey erinnert an Angela Merkel. Die scheidende CDU-Kanzlerin gab mal zu, Fan von „Paul und Paula“, dem DDR-Kultfilm, zu sein, versteckte aber ansonsten auch lieber ihre Herkunft, um in der Politik erfolgreich zu sein. Giffey ist natürlich anders als Merkel, jünger, und sie wirkt offener. Aber genau wie Merkel gehört sie zu einer deutschen Minderheit, und wie sie bringt sie ihre Wurzeln, ihre DDR-Sozialisation eher indirekt in ihre Politik ein. 

Giffey irritiert die eigenen Genossen

Merkel hat die westdeutsche CDU so weit nach links gerückt, dass sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft kaum noch wiederzuerkennen ist. Giffey irritiert die eigenen Genossen mit Aussagen, die nicht so richtig in das Programm zu passen scheinen. Sie setzt sich eher für Auto- als für Radfahrer ein, mehr für Familien am Stadtrand als für Patchwork-Eltern in Prenzlauer Berg. Sie glaubt fest daran, dass jedes Kind es schafft, aus seinen Verhältnissen auszubrechen, wenn es genug Unterstützung bekommt. Sie war im Wahlkampf viel in den Randbezirken unterwegs, erklärte, außerhalb des S-Bahn-Rings lebten 70 Prozent der Berliner, die seien wichtig, und einige müsse man von den Rändern zurück in die Mitte der Gesellschaft holen.

Die Wahlergebnisse zeigen: Ihr Plan ist aufgegangen, wenn auch knapp. Die Grünen wurden vor allem in der Mitte Berlins gewählt, die SPD vor allem am Stadtrand. Und Franziska Giffey hat in den letzten Monaten nicht nur ihren Plagiatsskandal überstanden, sondern einen weiteren Rekord aufgestellt. Sie wird die erste gewählte Bürgermeisterin Berlins. Eine Frau, eine Mutter, eine Ostlerin.